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Ekkehard Faude

Joseph Albrecht von Ittner, von Konstanz aus gesehen. Einige Gründe dafür, dass er in der Kulturgeschichte der Stadt seinen Platz bekommen sollte.

(Überarbeitete Fassung eines Vortrags vom 5. Juni 2013 für die Veranstaltungsreihe «10 x Staunen» im Rosgartenmuseum Konstanz)

© Foto: Karsten Meyer

Ich versuche Ihnen einen faszinierenden Menschen näher zu bringen, von dem kein Porträt überliefert ist. Selbst auf der Website des Schloss-Museums von Heitersheim, wo er als letzter Kanzler des Malteser-Ordens erinnert wird, behelfen sie sich mit einem Konterfei seines Freundes Johann Peter Hebel.

Dabei gab es natürlich Porträts; sie sind nur nicht gefunden. Porträtzeichnungen, Bilder, gehörten in den Jahrzehnten vor der Erfindung der Fotografie ja zu den Freundesgaben. Aus einem Brief von Heinrich Zschokke, der als Herausgeber seiner Zeitschrift «Erheiterungen» Ittner immer wieder Texte entlockte, wissen wir: dass an der Porträtwand in seiner Aarauer Stube ein Bild von Ittner hing.
Wenn wir nach geschriebenen Bildern suchen: In den Erinnerungen Friedrich Hurters werden wir fündig, er hat als junger Mann den 53jährigen Ittner erlebt, als er 1807/08 in St. Blasien das dortige Benediktinerkloster im Auftrag des badischen Großherzogtums auflöste: «Der Vater meines Freundes war ein großer, stattlicher Mann, corpulent, mit schönen, regelmäßigen Zügen, imponierend in seiner Haltung.»
Aber das fehlende Porträt ist nicht die einzige Leerstelle. Die akademische Forschung hat diesen Joseph Albrecht von Ittner seit bald 200 Jahren am Rand gelassen. Wir sind, was Texte angeht, auf jene vier schmalen Bände angewiesen, die 1827-29 bei Wagner in Freiburg ein einziges Mal gedruckt wurden. Selten in Bibliotheken und noch seltener im Antiquariat, sind die Bände in einem verdienstvollen Digitalisierungs-Projekt der UB Freiburg inzwischen frei zugänglich.
Zusammengestellt und mit einer grundlegenden Biographie versehen wurde jene Buchausgabe von dem Wessenberg nahestehenden Heinrich Schreiber, bei dem Jacob Burckhardt später studiert hat und den – noch später – die päpstliche Kurie wegen seines freieren katholischen Denkens exkommunizierte.
Von Ittners Texten wäre aber noch viel mehr zu finden, man müsste sie in Jahrbüchern, Almanachen und diversen Zeitschriften zwischen 1790 und 1825 suchen.

Ein Weltneugieriger in sieben Sprachen
Eine staunenswerte Bandbreite von Interessen wird sichtbar, ein ernsthafter Aufklärer, der immer wieder auch Humor als notwendige Farbe der Weltsicht umsetzte: Er schrieb Erheiterungen über Tabak- und Biergenuss, Erörterungen über Sitten asiatischer Nomadenvölker, er schrieb über Bevölkerungswachstum und die Vernichtung von Kindern durch die Arbeit in Fabriken des englischen Frühkapitalismus – er hat auch, ein Bewunderer von chinesischer Kultur und Lebensformen, den Import jener Himalajaziegen, von denen die Kaschmirwolle kam, in die europäischen Alpen angeregt; mit Erfolg, wie sein Biograph anmerkte.

Man müsste die Denkschriften zur Verteidigung des Malteserordens erkunden, um seine Wertschätzung von Organisationen zu verstehen, die es geschafft hatten, Jahrhunderte zu überdauern; die letzte schrieb er, schon als Staatsrat in badischen Diensten («Paul der Erste, russischer Kaiser, als Großmeister des Malteserordens : Wichtiger Beitrag zur neuesten Geschichte dieses Ordens»), vermutlich im Kloster St. Blasien. In einer Mischung aus Zorn und Bedauern beschreibt er das Ende des Ordens nach der Besetzung Maltas als eine Geschichte aus politischem Verrat, Unfähigkeit, Intrigen und dem Unglück der Ermordung des machtvollen russischen Beschützers.
Eine faszinierende Lektüre wären die diplomatischen Berichte, die Ittner als erster Gesandter des Großherzogtums Baden ab 1808 für seine Regierung verfasste. Er übernahm dieses Amt, als es Gerüchte über eine Auflösung der eidgenössischen Gebiete gab und der badische Außenminister seinen politischen Wunschtraum von einem Königreich Helvetien schon ausgeträumt hatte, das ein um die deutschschweizer Kantone erweitertes Baden umfassen sollte, natürlich unter der Karlsruher Dynastie.
Von Freiburg und dann von Konstanz aus reiste Ittner bis 1816 jeweils zur Schweizer Tagsatzung – noch gab es keine Hauptstadt oder zentrale Regierung, jeder der Kantone machte eine selbständige Außenpolitik, entsprechend kompliziert wurden die Verhandlungen. Bei der Tagsatzung setzte Ittner Respekt, Geduld und rechtsgeschichtliche Kenntnisse zur Verbesserung der Beziehungen ein. Umsicht war nötig, nachdem Napoleon die Grenzen innerhalb Europas im Vormarsch seiner Truppen geändert hatte. Auch die Grenze entlang des Rheins war ja erst von dem großen Franzosen diktiert worden und sie hatte ein flussübergreifendes Gefüge aus komplexen Rechten und Pflichten durchtrennt, zwischen den neu gebildeten Kantonen Aargau und Thurgau sowie dem massiv vergrößerten badischen Staat.
Die schlichte Geradheit der Schweizer, die ohne die Maskeraden der höfischen Etikette auskamen, wirkten auf Ittner wie die Lebensform einer besseren alt-deutschen Art. Die Dienstreisen in sein «Adoptivvaterland» waren bald auch Reisen zu Freunden in Schaffhausen, Aarau, Bern und Zürich.

Wer Ittner begreifen wollte, dürfte auch die Pionier-Arbeiten des praktizierenden Botanikers und Naturforschers nicht beiseite lassen, dieser Mann lebte beispielhaft in der Epoche der Enzyklopädie: Im Mainzer Universitätsarchiv ist Ittners «Verzeichnis aller in dem Fürstenthum Hohenzollern wildwachsenden Bäume und Gesträucher» bewahrt, die er in jungen Jahren als Archivar beim Fürsten von Hohenzollern-Hechingen erarbeitet hat. Irgendwo in den Schränken des Hauses Baden könnte auch jene Zusammenstellung der Obstsorten rings um den Kaiserstuhl liegen, die Ittner bei seinem Übertritt in den badischen Staatsdienst dem Großherzog als Geschenk überreichte.
Ittner war – mit Spezialisierung auf Botanik und Topographie – zur Zeit seiner Arbeit als Kurator der Freiburger Universität unter den ersten Mitgliedern der Donaueschinger «Gesellschaft der Freunde vaterländischer Geschichte und Naturgeschichte an den Quellen der Donau» und er wurde später Ehrenmitglied der Naturforschenden Gesellschaft in Zürich.
Sein botanisches Wissen hat ihm solche Wertschätzung beim Naturforscher Karl Christian Gmelin eingebracht, dass dieser in seiner „Flora Badensis“ eine Wasserpflanze als «Ittnera» benannte.

Ich gestehe: Erst einmal ist es verwirrend, wenn man die Produktivität Ittners in seinen beruflichen Zwängen und seinen frei gewählten Themen als Autor sichtet. Und je länger man ihn liest, auch seine zur Erheiterung und Unterhaltung geschriebenen Texte, desto mehr regt sich zudem das Gefühl: dass man die Stimmen, die er aus der europäischen Überlieferung in seine Texte verwoben hat, gar nicht alle vernehmen kann. (Johann Peter Hebel wechselte mit ihm Briefe in Latein; Griechisch, wie es Ittner wohl vorgezogen hätte, war ihm doch zu mühsam.)
Ittners Attraktivität für Zeitgenossen hing damit zusammen, dass sie von diesem Freund und Gastgeber mit einem umfassenden Zitatenvorrat aus Jahrtausenden unterhalten wurden. «Ich lese nicht nur für mich, ich lese auch für meine Freunde» – war einer seiner Leitsprüche. Für das Verständnis seiner Texte heißt das aber: Man müsste den griechischen Homer und den lateinischen Vergil etwa so auswendig können wie er, möglichst auch spanische, englische, italienische Literaturen im Original gelesen haben und man dürfte sich auch nicht wundern, wenn er französische Neuerscheinungen mit verarbeitet, – den um 14 Jahre jüngeren katholischen Weltneugierigen Chateaubriand mit seinem «Génie du Christianisme» zum Beispiel.

Versetzung nach Konstanz
Dieser immens gebildete Mann kam in das Städtchen Konstanz, das keine 5000 Einwohner zählte und das gerade erst noch vorderösterreichisch gewesen war. Eine von Kriegszügen der Napoleonzeit gebeutelte Stadt, noch eingeschlossen von über dreißig mittelalterlichen Türmen und Toren, – ein geducktes Gemeinwesen, das nach der Aufhebung von Kirchen und Klöstern mit dem Verlust einer großen, betuchten Schicht von Geistlichen zurechtkommen musste und auch einen Großteil von wirtschaftlich aktiven Genfer Emigranten wieder verloren hatte.
Ittner war das Gegenteil des Verhockten, er hatte das Studium in Mainz und Göttingen, juristische Stationen in Wetzlar, Regensburg und Wien hinter sich, war in Hechingen Hofrat im Bereich Forstamt (mit Sitz in der Regierung) gewesen. Dort hatte er Maria Therese Frank geheiratet, Tochter des Hohenzollerischen Kanzlers, sie machte ihn mit vier Kindern zum begeisterten Vater. Ab 1786 könnte ein glückliches Familienleben mit einem weithin gerühmten gastlichen Haus in Heitersheim beschrieben werden, mehrere Zeitgenossen haben es überliefert. Von dort aus ist Ittner als Verwaltungschef des Malteserordens deutscher Zunge – mit Besitz und Rechtsansprüchen bis nach Dänemark, Skandinavien, Polen – auf zahlreiche Auslandsreisen gegangen.
Und bevor er auf Geheiß seiner Regierung den Wohnsitz im äußersten Zipfel Badens zur Schweiz hin nehmen musste, hatte er vier Jahre lang mit großer Energie als Kurator die Freiburger Universität auf neuen Kurs gebracht, in einer Stadt mit einer gebildeten Bürgerschicht und anregender Geselligkeit, zudem für Freunde von weiter her verkehrsgünstig zu erreichen.
Wundert sich jemand, dass er die Versetzung nach Konstanz als Seekreis-Direktor äußerst ungern befolgte?

Goethe, Napoleon, Freiherr von Stein
Ittner, der in der Mainzer Gegend aufwuchs, ist nur fünf Jahre jünger als der Frankfurter Johann Wolfgang Goethe. Bei seiner juristischen Ausbildung am Reichskammergericht in Wetzlar hat er den jungen Anwalt Goethe nur knapp verpasst.
Vom berühmten Dichter hielt er sich in späteren Jahrzehnten auffallend fern, hin und wieder polemisierte er in Aufsätzen dezent gegen ihn, – auch gegen das aufgeregte, verführerische Schreiben der Romantiker. An erster Stelle im Olymp stand für Ittner ein Dichter, den heute nur noch Germanisten kennen, Johann Georg Jacobi, der mit Wieland zusammenarbeitete und eine Dichtkunst bevorzugte, die wiederum Goethe in seinem «Wilhelm Meister» behutsam abhakt («bringt man mir das in Rhythmen und Reimen, so bin ich auf meinem Sofa dankbar») .
Jacobi war europaweit bekannt damals, wurde der erste protestantische Professor im katholischen Freiburg und war zudem bald der spiritus rector eines literarisch interessierten Frauenzirkels. Über diesen 1814 verstorbenen Jacobi, Freund seiner schönsten Lebensjahre, der für ihn der Repräsentant einer untergehenden europäischen Kulturprägung blieb, schrieb Ittner in seinen Konstanzer Altersjahren noch eine Biographie, die letzte größere Arbeit.

Ittner ist 15 Jahre älter als der korsische Hasardeur Napoleon, dessen Eroberungspolitik auch sein Leben fatal veränderte. Napoleon eroberte die Insel Malta auf dem Weg seines Ägyptenfeldzugs, vertrieb die dort residierende Ordensleitung und bewirkte ein Ende jenes Malteserordens, für den Ittner im idyllischen Heitersheim 20 Jahre lang als Kanzler tätig gewesen war. Durch den Verlust dieser angesehenen Position kam es überhaupt dazu, dass Ittner in den Dienst des Großherzogtums treten musste: Baden verdankte eben jenem Napoleon eine große Gebietserweiterung und brauchte dringend politisch erfahrene Verwaltungsspezialisten.

Ittner ist drei Jahre älter als der preußische Reformer Freiherr von Stein, der Mitorganisator des Widerstands gegen Napoleon und Berater des russischen Zaren. Vielleicht haben sich die beiden schon in Göttinger Studienzeiten kennengelernt. In der machtvollen Denkart der Aufklärung bleibt Ittner stärker dem Überkommenen verhaftet als Stein. Aber es ist bezeichnend, dass der Reichsfreiherr von Stein 1820 eigens nach Konstanz reist, um Ittner zu treffen.
Er kommt nicht wegen Wessenberg, mit dem er beim Wiener Kongress zu tun hatte. Es ist Ittner, der mit ihm nach St. Gallen reist und ihn dort mit den Handschriftenschätzen bekannt macht. Denn der Freiherr von Stein hat damals – nach seinem Abgang aus der Politik – die «Gesellschaft für ältere deutsche Geschichtskunde» mitbegründet, sie wollte die historischen Dokumente zur Geschichte der Deutschen aus verstreuten Archiven und Bibliotheken sammeln, aufarbeiten und sie als «Monumenta Germaniae Historica» veröffentlichen. Die MGH ist heute noch die beste Adresse für mediävistische Grundlagentexte, damals war sie erst ein Zukunftsprojekt: Deutschland als zusammenhängenden Staat gab es ja noch lange nicht. Nach dem Schock der Kriege und der französischen Besatzungsjahre wollten sich geschichtsbewusste Männer um die Aufklärung einer gemeinsamen Vergangenheit bemühen und so einen älteren Zusammenhalt erkennbar machen. Unter den 57 Gründernamen aus den deutschsprachigen Ländern – auch Wilhelm von Humboldt ist mit dabei –, taucht aus Konstanz nur ein Name auf: Joseph Albrecht von Ittner.

Vergessen in Konstanz
Warum hat man ihn in Konstanz so gründlich vergessen? In Freiburg, wo er nur fünf Jahre lebte, ist eine Straße nach ihm benannt; in Heitersheim sowieso. In Konstanz verkündete zwar noch ein Extrablatt am 9. März 1825 den Tod des Staatsraths von Ittner, der 13 Jahre lang in der Stadt gelebt hatte. Aber dann?
Das Vergessen fing früh an, man kann private wie politische Gründe annehmen: Hätte Ittner ein Vermögen geerbt oder aus kirchlichen Mitteln so reichlich verdient wie sein um 20 Jahre jüngerer Freund Ignaz Heinrich von Wessenberg, hätte er also der Stadt eine Stiftung hinterlassen können, mit einer Immobilie um seine Bibliothek: dann wäre den Konstanzern ein Gedenkstein leichter gefallen. So aber kamen Ittners Bücherschätze kurz nach seinem Tod zwar ans damalige Gymnasium; es wurde aber nicht einmal in einem Inventar überliefert, welche Druckwerke in der Bibliothek des heutigen Suso-Gymnasiums aus Ittners Besitz stammen.
Hätten familienstolze Erben sich um die öffentliche Bewahrung seines Namen so gekümmert, wie das bei Nachfahren etwa der Familien Leiner, Venedey, Sauerbruch zu erleben war, so hätten wir vielleicht eine Ittner-Schule oder einen Ittner-Platz. Eine solche Präsenz hätte einer anderen, tiefgründigeren Verdrängung entgegenwirken können, über deren politische Dimension man nur spekulieren kann:
Wir wissen seltsam wenig darüber, wie die Konstanzer nach 1800 den Übergang aus der jahrhundertelangen Bindung an Österreich ans straff regierende Baden verkraftet haben; die Identifikation mit einem liberalen und reformfreudigen Staat konnte sich erst später entwickeln, als eine Verfassung die Bürger direkt beteiligte. Von den Freiburgern sind noch 1815 Versuche bekannt, durch eine Delegation beim Kaiser in Wien die Rückkehr aus der badischen Kuratel heim zur österreichische Herrschaft zu erlangen.

Seekreisdirektor für zwei Jahre
Dem Seekreisdirektor Ittner wird als Vertreter der Karlsruher Regierung nicht unbedingt nur Sympathie entgegengebracht worden sein, als er im Jahr nach der Verwaltungsreform seinen Dienst hier antrat. Dieser Seekreis war 1810 eben erst frisch gebildet, er war einer der zehn Verwaltungseinheiten in denen sich der aufs Dreifache vergrößerte Staat neu organisierte. Der erste Behördenchef Hofer war keine zwei Jahre im Amt gewesen.
Was hatte ein Seekreisdirektor überhaupt zu tun? Als Leiter der neuen Mittelbehörde hatte er es nicht leicht, er sollte von der Polizeiaufsicht über die Schulpflege bis zur Wirtschaftsförderung die Effizienz der Karlsruher Verwaltung durchsetzen, samt einer stärkeren Kontrolle der bürgerschaftlichen Selbstverwaltung. Dies alles im Sinn eines bürokratischen Absolutismus, der in Baden noch bis weit über den Wiener Kongress ohne Verfassung auskam.
In der löchrigen Literatur über Ittner – zumeist Lexikon-Artikel, die auf früheren beruhen – gibt es mehrere Versionen darüber, ab wann und wie lange er hier Seekreisdirektor war; die Verwirrung begann schon im Nekrolog, den der Freiburger Theologe und Altphilologe Leonhard Hug schrieb – er behauptete einen Beginn der Direktoriumszeit erst nach dem Ende der Gesandtentätigkeit in der Schweiz. Dabei ist der Befund aus seiner Personalakte eindeutig. Ittner wurde im Spätjahr 1811 nach Konstanz versetzt mit der Begründung, er sei als Gesandter dort näher an der Schweiz. Zugleich wurde ihm das Amt des Seekreis-Direktoriums aufgehalst. Er hat es nach zwei Jahren deutlich entnervt zurückgegeben. Im Schreiben an seine Regierung umriss er das Amt, «das ich mir durch 2 volle Jahre mit einem Aufwande von vielen Unkosten, von täglich wenigstens 10 Stunden regelmäßiger Arbeit treu, und, wie ich hoffte, unklagbar verwaltet habe. Ich genoß keine Entschädigung als freyes Quartier.»
Ittner nahm lieber eine Rückstufung als Beamter in Kauf. Seine diplomatische Tätigkeit setzte er bis nach dem Wiener Kongress fort und er gab sie nur unfreiwillig auf: Im Januar 1816 erfuhr er gerüchteweise aus Zürich, dass die Karlsruher Regierung bereits einen Nachfolger für ihn platziere. (Dass sich dieser Höfling als so inakzeptabel erweisen sollte, wie Ittner dies in seinem Protestschreiben an den badischen Außenminister vorhersagte, wurde kein wirklicher Trost.)
Ittner sah sich ohne genügend Rückhalt in der badischen Regierung («wo ich als Ausländer, in Mainz gebürtig […], nur wenig Bekanntschaft habe») . Auch als dem 62-Jährigen weiterhin volle Gehaltszahlung zugesichert und er mit dem Kommandeur-Kreuz des Zähringerordens ausgezeichnet wurde, quittierte dies Ittner mit Dank und dem wohltemperierten, aber kühlen Hinweis, dass die Fortzahlung ihm rechtlich ohnehin zustand und andere Gesandte von ihren Staaten einen entsprechenden Orden sehr viel früher bekommen hätten.
Am Beispiel dieses biographischen Katarakts – es brachte nicht nur den Verlust einer anspruchsvollen politischen Tätigkeit, erschwert wurde ihm auch der Kontakt mit seinem Schweizer Freundeskreis – kann die Verschränkung von Leben und Literatur bei Ittner beobachtet werden: In der nur wenige Wochen später geschriebenen Erheiterung «Geschichte meiner Familien-Perücken» hat er die Figur eines alten Staatsdieners gezeichnet, der nach einem öffentlichen Schimpf bei Hofe auf Genugtuung oder seiner Entlassung besteht. In der Fiktion leistet er sich einen idealen Landesherrn.

Ein letztes Amt
Ittners letzte offizielle Mission brachte ihn zwei Jahre später auf einen ehrenvollen wie aussichtslosen Posten nach Frankfurt a. M., als Bevollmächtigter der badischen Kommission bei einer Kirchenkonferenz über die katholischen Belange in den Staaten des deutschen Bundes.
Beim Wiener Kongress hatten unterschiedliche katholische Lobbyisten – der vom Papst bereits abgelehnte Wessenberg war einer davon – eine dringend nötige Neuregelung mit der Kurie eher erschwert. In Frankfurt versuchten Regierungsvertreter vor allem der ehemaligen Rheinbund-Staaten eine Quadratur eines Kreises: Sie wollten den strategischen Wunsch der Regierungen nach einer landeskirchlichen Ordnung umsetzen, die den neuen Gebietsgrenzen entsprach; zugleich wünschten sie sich – wie es der mächtigste deutsche Bischof Dalberg schon zu Napoleons Zeiten geplant hatte – einen größeren Verbund mit nationalem Eigengewicht. Eine gegenüber dem Papsttum selbständigere Bischofskirche mit einem deutschen Primas an der Spitze.
Dass die Karlsruher Regierung den Staatsrat aus Konstanz als Verhandlungsführer schickte, wird sich Wessenberg gewünscht haben, an dem der Landesherr entgegen den Absetzungswünschen des Papstes noch festhielt. Wessenberg hatte allen Grund, die eigenen Positionen von dem mit ihm befreundeten Ittner umsichtig vertreten zu wissen; auch für dessen Freiburger Freunde war der Wessenbergianismus die erwünschte Reformbewegung.
Ittner verteidigte die Ergebnisse der Konferenz, als deren Ablehnung durch die Kurie schon klar war. Er selbst war überraschend nicht nach Rom zu deren Überreichung und Erläuterung entsandt worden, obwohl er doch fließend Latein und Italienisch sprach.
Persona ingrata kann er 1819 aus verschiedenen Gründen gewesen sein, seine bekannte Nähe zu Wessenberg konnte der Kurie nur missfallen und eine Zielscheibe der gehässigen Ordenspublizistik war Ittner, seit er das Benediktinerkloster St. Blasien liquidiert hatte.
Er kam auch körperlich geschwächt aus Frankfurt zurück. Als die Karlsruher Regierung ihn als Kurator der Universität Heidelberg berufen wollte – nach den Karlsbader Beschlüssen von 1819 ein neu geschaffener Posten der verschärften politischen Zensur – lehnte Ittner dies mit Hinweis auf sein Alter ab.

Die letzten Jahre
«Je weiter ich im Leben vorrücke, desto mehr überzeuge ich mich, wie viel mir noch zu erlernen übrig bleibt» – «Die beste Erholung von der Arbeit, ist der Wechsel der Arbeit».
Ein Mann mit solchen Grundsätzen war gegen Langeweile auch im stillen Konstanz gefeit. Er verfasste in seinen letzten fünf Lebensjahren nicht nur die bereits erwähnte Jacobi-Biographie. Seinen Homer las er aus einer wohlweislich angeschafften besonders groß gedruckten Ausgabe.
Ihm fehlten am See wohl immer noch die bürgerlich-aufklärerischen Zirkel seiner Freiburger Lebensform – auch von Konstanz aus blieb er aktives Mitglied in der Freiburger Lesegesellschaft, die er 1808 in einem illustren Kreis mitbegründet hatte. Besucher von weither, die wie Freiherr von Stein und der Philologe Friedrich August Wolf von Berlin anreisten, konnten solche Geselligkeit kaum ersetzen.
Sein Biograph Schreiber weiß zu berichten, dass Ittner in Konstanz nur mit Wessenberg und dem Dompfarrer Strasser Umgang hatte, sie wohnten sozusagen in Sichtweite. Im nahen Eppishausen (Thurgau) blieb ihm der Freund Laßberg, der winters eine Wohnung in Konstanz nahm, um näher bei Ittner zu sein.

Die Konstanzer des 19. Jahrhunderts hatten vielleicht zu wenig Grund, Ittner im Raum öffentlicher Überlieferung zu bewahren; er war ein mit Abstand respektierter Vertreter der neuen Regierung in Karlsruhe, der sich zudem selbst rar gemacht hatte, als Gesandter war er jedes Jahr monatelang abwesend.
Aber das muss ja für uns heute kein Grund sein, Ittner weiter zu übergehen. Er war von einem geistigen und politischen Kaliber, wie ihn das 19. Jahrhundert der Stadt selten bescherte. Eine kulturwissenschaftliche Betrachtung könnte an seiner Person Bruchlinien und Verwerfungen jener «Sattelzeit» der Revolutions-Epoche kenntlich machen.

Postskriptum über Ittners Kopf:
Der Mann, der noch Perücken getragen hatte, den Zweispitz des badischen Beamten übernahm, dem es unter unprätentiösen Bürger in der Schweiz aber besonders gefiel, wie sein Biograph erzählte: «Zwar war Ittner kein eigentlicher Feind der Etikette, da, wo sie, wie an Höfen nöthig ist; dennoch lobte er die Einfachheit der schweizerischen Sitten, die ihn meistens derselben überhob, und wenn besondere Anlässe ihm einigen Zwang auflegten, so war er des Augenblicks froh, welcher ihn desselben entledigte. Oft warf er, bei seiner Rückkehr nach Hause, eiligst seine Amtskleidung ab und schlüpfte in seinen weiten Oberrock mit den Worten: ’Jetzt ist mir wieder wohl‘».


Ekkehard Faude
Konstanz, 5. Juni 2013.




Besonders hilfreiche Quellen bei der Vorbereitung waren:

Die vierbändige Ausgabe von Ittners Werken ist hier in digitaler Form zu finden:
http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/ittner1827ga?sid=2fa58ec37e
5e%207dc65787e3239929396d

Weitere digitale Einzeltexte:
Ittner: Jacobi‘s Leben
http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/ittner1822/0012?sid=62ab2253ba8f6454cc08641f766ed1e0

Joseph Albrecht von Ittner : Paul der Erste, russischer Kaiser, als Großmeister des Malteserordens : Wichtiger Beitrag zur neuesten Geschichte dieses Ordens. Sauerländer, Aarau 1808
http://books.google.ch/books?id=mNNKAAAAcAAJ&printsec=frontcover&hl=de&source=gbs_ge_summary_r&cad=0#v=onepage&q&f=false

J.L.Hug: Joseph Albert von Ittner, in: Neuer Nekrolog der Deutschen, Dritter Jahrgang 1825, Erstes Heft, S. 325-338, Ilmenau 1827:
google books.ch > Nekrolog > Ittner

Dokumente und gedruckte Bücher:

Ittners Personalakte im Generallandesarchiv Karlsruhe: GLA K 76/ 3950 f.

Friedrich Hurter: Geburt und Wiedergeburt. Erinnerungen aus meinem Leben und Blicke auf die Kirche. Erster Band, 2., sorgfältig durchgesehene und verbesserte Auflage, Schaffhausen 1846

Josef Inauen, Brennpunkt Schweiz. Die süddeutschen Staaten Baden, Württemberg und Bayern und die Eidgenossenschaft 1815–1840, Fribourg 2008.


Text: © Libelle Verlag, 2013
Foto: Ekkehard Faude und ein Joseph Albrecht von Ittner zugeschriebener Hut im Rosgartenmuseum zu Konstanz. © Karsten Meyer.

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