Ekkehard Faude, Gudrun Borst

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Gudrun Borst im Gespräch mit Ekkehard Faude anlässlich der Buchvorstellung von »Mönche am Bodensee«

Foto: E.Tschiemer

Ekkehard Faude über Arno Borst

Eine Rede anlässlich der Neuausgabe »Mönche am Bodensee«
am 13. Januar 2010 in der Buchhandlung »konstanzer bücherschiff«

Über Arno Borst zu reden, heißt auch Jahre nach seinem Tod: Eulen in athenische Mediendörfer tragen. Dieser Historiker bleibt – jenseits seiner Werke – auf ganz unterschiedlichen Ebenen präsent.
Wer heute Abend hier keinen Platz gefunden hat, könnte unter Google-News seine vor 50 Jahren erschienene Habilitationsschrift ausführlich gewürdigt finden, in einer Rezension, die einer derzeitigen Novität gilt. Jene dreitausend Seiten über das Motiv des Turmbaus zu Babel, also der Sprachenvielfalt in der europäischen Überlieferung: Welche »Habil« kommt zeitentrückt noch zu solchen Ehren? – kann man sich fragen. Und sotto voce die Antwort: Eine Arbeit, die in den frühen Sechzigerjahren so fern von karrierefördernden Themen und Techniken war, dass sich der Habilitierte erst einmal fünf Jahre vergeblich auf Lehrstühle bewarb.
Es war dann eben dieses Turmbau-Werk, das dazu beitrug, dass Arno Borst 1996 der Balzan-Preis zugesprochen wurde.

Zuhause könnte man auch den Gelehrten selber sehen, auf youtube. Man könnte seine volle Stimme hören: drei Minuten lang, als Appetizer für ein lieferbares Video. Es wurde am 25. 11. 1988 in Donaueschingen aufgenommen. Der Dreiundsechzigjährige ging in der „Teleakademie“ mit listig literarischem Einstieg einer Frage nach, die ihn noch während seiner Konstanzer Universitätsjahre zu seinem markant neuen Weg, dem einer Erforschung der mittelalterlichen Komputistik gelockt hatte: »Wie kam arabische Sternkunde ins Kloster Reichenau?«
https://www.youtube.com/watch?v=-7T4TrzWyCk

Vielleicht ist die wohlgelaunte Dynamik seines Vortrags aufgeladen von seiner noch frischen Dienstbefreiung: im Jahr davor war Arno Borst den Belastungen des Universitätsbetriebs vorzeitig in Richtung einer Stiftungsprofessur entkommen, endlich konnte er sich vollends auf sein Forschungsvorhaben konzentrieren: »Hermann der Lahme – ein Historiker in seiner Gegenwart«.
Ein epochales Unternehmen, ein Einzelner versuchte da einen blinden Fleck der deutschen Mediävistik ins Visier zu nehmen. Den Historikern waren bis dahin u. a. die naturwissenschaftlichen Handschriften zu schwierig gewesen, sie hatten sie beiseite gelassen.

Aber Google-News haben ihre Verfallszeit, wie lang eine Rezension im Netz sichtbar bleibt, ist so ungewiss wie die Fortdauer eines Videoangebots auf youtube. Es gibt immer noch stabilere Formen, in denen seiner gedacht wird: Bücher, also diese altmodischen Gegenstände aus Papier, die von einigen schon »dead-tree-books« genannt werden.

Die Form gedruckter Widmung: Hans Maier, der frühere bayrische Kultusminister, hat dem Andenken Arno Borsts die neueste Auflage seines Buchs über christliche Zeitrechnung gewidmet. Er war im Amt, als Borst 1973/74 auf den Lehrstuhl nach Würzburg wechseln wollte.
Zu den vielen interessanten Kommunikationen, die sein posthum veröffentlichtes Buch »Meine Geschichte« ausgelöst hat und die derzeit nur im Ozean des Mailverkehrs fassbar sind, gehören auch Einsprüche. Hans Maier will immer noch scheinen, dass Borsts Version der Verzögerungen und des Abbruchs der Würzburger Verhandlungen leider die eigentlich kruden Hintergründe ausblende, nämlich die finanzpolitische Krise des Jahrs 1974 in Bayern.

Auch an die noch frischen Gedenktexte sei erinnert. Bei einem Historiker, der so beharrlich den Veränderungen der memoria, des Gedenkens und des Gedächtnisses nachgefragt hat, sind sie von Bedeutung. Die wohl gediegenste Würdigung ist im Jahrbuch der Bayrischen Akademie der Wissenschaften erschienen. Verfasst von Horst Fuhrmann, dem ehemaligen Präsidenten der Monumenta Germaniae Historica. In der Zentraldirektion dieser vornehmsten Mediävistik-Institution hat Arno Borst viele Jahre gestaltend mitgearbeitet.
Dieser Text hätte einem schmalen Buch mit Gedenktexten noch gut getan, das vor einigen Monaten bei Thorbecke erschien. Darin ist nicht ganz die Hälfte der Reden abgedruckt, die am Nachmittag des 8. Mai 2008 gehalten wurden, als aus Rom, Jena und anderswoher Schüler, Freunde, Kollegen und Verehrer des Verstorbenen sich in der Universität versammelten.
Das Bändchen zeigt – neben dem subtilen und persönlich gehaltenen Beitrag von Gustav Seibt – wenigstens drei Institutionen, die sich mit dem Gedenken an Arno Borst verknüpfen wollen. Über die Herausgeber Rudolf Schiefer und Gabriela Signori sind dies die „Monumenta Germaniae Historica“ in München, sowie die Universität Konstanz, und über die Thorbecke-Veröffentlichungsreihe »Vorträge und Forschungen« ist es der Konstanzer Arbeitskreis für mittelalterliche Geschichte. Diese Historiker-Vereinigung bedankt sich auf S. 7 für die Finanzierung des Drucks durch die in München verwaltete »Arno Borst Stiftung«; wir übergehen rasch die Frage, ob der Verstorbene mit solcher Verwendung der von ihm gestifteten Gelder einverstanden gewesen wäre.

Zu allen drei Institutionen hatte Arno Borst, einzelkämpferisch-impulsiv wie er war und träge und kumpaneibestimmt wie Institutionen gern werden, unterschiedlich schwierige Beziehungen. Die deutlichen Worte, die er über den „Konstanzer Arbeitskreis“ in seinem nachgelassenen Text „Meine Geschichte“ fand, wurden denn auch bereits von der FAZ-Besprechung des Gedenkbändchens süffisant zurück gespiegelt.

Mit der Institution »Monumenta« verband Arno Borst wohl das stabilste Verhältnis. In deren Schriftenreihe war schon 1954 seine Dissertation über die Katharer erschienen und seither in fünf Auflagen nachgedruckt worden. Noch seine Editionen im neuen Jahrtausend sah er dort unabhängiger von den kapitalistischen Schwankungen des Buchmarkts. Das hinderte ihn aber nicht insgeheim auch darüber fröhlich zu spotten: Wo in einem privaten Briefwechsel die Freude von Archäologen über den Fund einer mittelalterlichen Kloake verhandelt wird, fügt er hinzu: er habe nun, was ihm wichtig sei, erst einmal in die Kloaken der MGH abgeladen, und dort könnten dann zumindest Wissenschaftler künftiger Jahrhunderte fündig werden.

Und die Universität Konstanz? Eine Beziehungsgeschichte über einem Minenfeld, wo einige gern Blumen sehen wollen. Arno Borst war ja mit hochgesteckten Erwartungen 1968 in die Aufbauphase eingestiegen, er hatte zuvor schon ein eigenes Konzept beigesteuert, einen Schwerpunkt für die bislang getrennt operierenden Fächer der Philosophischen Fakultät. So sah er die gemeinsame Mitte: »Sprachlicher Ausdruck geschichtlicher Erfahrungen nachdenklicher Menschen«. Lächelt da jemand über so viel Verständlichkeit bei der Formulierung eines universitären Programms? Und lächeln wir anders, wenn wir den Wissenschaftsjargon, der sich nach 68 auch von Konstanz aus verbreitete, aus dem Abstand der Jahrzehnte nachbuchstabieren?
Die Poetiker und Hermeneutiker hätten damals gern einen anderen Mediävisten nach Konstanz geholt. Aber der Gründungsrektor Gerhard Hess hatte 1956 schon als Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft Arno Borst deren Preis überreicht, und so hatte es nicht viel Überredung durch Waldemar Besson gebraucht. Der Politologe Besson, ein dynamischer Netzwerker, hatte schon in Erlangen die Berufung von Borst auf einen Lehrstuhl durchgesetzt; damals mit dem Bonmot: ein Mann der schon so oft abgelehnt worden sei, müsse sehr gut sein. Besson mobilisierte seine Beziehungen auch hier.
Arno Borsts integrative Fähigkeiten wurden in Konstanz rasch erkannt, schon im Januar 1969 wurde er zum Prorektor gewählt, in solchem Amt übte er seine Geduld in wöchentlich mehr als 12 Stunden ausfasernden Sitzungen. Ihm erschien das viel. Er war in seiner eigentlichen Arbeit schon auf dem Weg zu seiner großen Synthese für geschichtsbegeisterte Laien, den fast 800 Seiten seiner »Lebensformen im Mittelalter«.
Arno Borst in der Krise der jungen Universität zu beschreiben, das bräuchte mehr als einen Abend. Und es käme womöglich eine schwierigere Wahrheit heraus, als das, was Rudolf Schieffer in seiner Gedenkrede so flott formulierte: Borst habe die Gründungsidee und die Anfangsjahre schon bald zu idealisieren begonnen.

Ich erinnere mich noch an die Seminarsitzung über Abälards »Ethica« in einem der niederen Gruppenhäuser am Sonnenbühl, als Borst, hoch erregt aus einer Sitzung kommend, uns mitteilte, dass er soeben als Prorektor zurückgetreten sei. Wir waren sonst den besonnenen Lehrer gewohnt.
Als Studenten hatte er uns in jeder seiner Veranstaltungen neu beeindruckt durch die souveräne Geduld, mit der er das unzureichende studentische Denken aufnahm und weiterführte; diese gelebte Alltagspraxis einer Universitätsreform mit weniger autoritären Lehrformen. Und dabei war die Genauigkeit seiner eigenen Vorbereitungen unverkennbar. Ja, man erlebte bei ihm am Beispiel des Rittertums oder der burgundischen Klosterreform oder der Geschichte der Alpenüberquerungen, was für ein hochkarätiges Abenteuer das werden konnte: der „sprachliche Ausdruck geschichtlicher Erfahrungen nachdenklicher Menschen.“
Was wir damals nicht wissen konnten war: dass Borst schon im ersten Jahr seines Prorektorats so genervt war vom Kurs der universitären Sitzungen, dass er in privaten Briefen sarkastisch vorschlug, die Uni »Saint-Exupéry-Universität« zu nennen, weil es in Konstanz nur »Wind, Sand und Stars« gebe. Noch weniger ahnten wir, dass er sich bereits ab 1970 wieder anderswo bewarb.
Die kurze Passage in seinem Rückblick „Meine Geschichte“ über seine Versuche, an andere Universitäten zu kommen, gibt nur einen schwachen Eindruck von dem Gemenge aus Hoffnungen und Enttäuschung. Man kann sich das aber immerhin fragen: wie anders sich die Themenstellungen des Historikers Borst entwickelt hätten, wenn er 1971 die Direktorenstelle im Göttinger Max Planck-Institut bekommen hätte. Der zweite damals neu berufene Direktor war nämlich ein von Borst seit vielen Jahren geschätzter Gesprächspartner, Rudolf Vierhaus, jener Sozialhistoriker, der ihn schon 1965 gern von Erlangen weg und an die neu gegründete Ruhr-Universität nach Bochum hatte ziehen wollen.

Zum Glück für die Region hier blieb Arno Borst damals am Bodensee. Er hatte sich schon an seinem Erlanger Lehrstuhl mit der mittelalterlichen Geschichte jener Region beschäftigt. Auch am Bodensee nahm er das Vorfindliche in Angriff, während er längerfristige Themen wie Rittertum und Universitätsgeschichte noch abschloss. Er hatte am See sogleich Kontakt gesucht. Für den »Konstanzer Arbeitskreis« organisierte er die Thematik des Mönchtums und der Pfalz Bodman in Tagungen und Sammelbänden. Aber es war bezeichnend, dass die konservative Wissenschaftspolitik dieses Historikerkreises seinen Vorschlag, den europäischen Horizont der Reichenauer Klostergründung zu erforschen, auf die herkömmlichen Betrachtungsraster »Mönchtum, Adel, Episkopat« zurückstutzte.

In anderen Weltgegenden wurde zur gleichen Zeit Borsts weiterer Horizont ernst genommen. Im März 1973 sagte er hoch erfreut einer Einladung zu, die seine europäische Forschungsintention bestätigte. Cinzio Violante, der Präsident der altehrwürdigen Mailänder Accademia Nazionale, bat ihn damals um einen Beitrag zum Kongress mit dem Thema »Le Alpi e L’Europa«. So kam es zur Alpenthematik in den Borstschen Lebensthemen und zu einer für Studentinnen und Studenten unvergesslichen Exkursionsfahrt im Mai 1974.

Die Beschäftigung mit der Geschichte des Bodenseeraums gewann in den mittleren 70er-Jahren eine Trostfunktion, daran erinnert sich lebhaft Arno Borst Frau Gudrun. Ihr hat er dann auch die »Mönche« gewidmet, der Dank für eine Lebensleistung aus Geduld und begleitendem Interesse, die seine wissenschaftlichen Einzelgänge absicherte. Mit ihr gemeinsam machte er die Fahrten zu den klösterlichen Zentren zwischen Wettenbach und Weingarten. Die Arbeit an den „Mönchen“ lenkte ihn ab von dem, was er als Misere des Fachbereichs und der Fakultät erlebte. Geschichte, so sah er es, werde im Vergleich zum Gründungskonzept zur Dekoration geschrumpft. Noch im Jahr 1977 formulierte Borst in einem Brief die sarkastische Frage, »ob ich auf dem sinkenden Schiff meines Konstanzer Fachs die Ratte oder den Kapitän spielen soll«.
In eben diesem Jahr aber schrieb er bis in den Monat November hinein sein Manuskript der »Mönche am Bodensee« zu Ende. Dieses Buch war zugleich die Frucht eines großen Dienstes, den er der Universität erwiesen hatte. Denn nach Waldemar Bessons frühem Tod setzte Arno Borst dessen Initiative der öffentlichen Vorlesungen fort, die eine Brücke zwischen Universität und Stadtbevölkerung schlugen. (Das war, wir erinnern uns, noch vor der Ära von Horst Sund, der als Rektor dann programmatisch und mit großem persönlichem Einsatz die Universität mit der Region vernetzte.)
Arno Borst begann seine öffentlichen Vorlesungen 1974 mit »Europäische Entscheidungen im mittelalterlichen Konstanz«; zunächst ohne logistische Hilfestellung der Universität – es gibt noch seine Briefe an die Redaktion des Südkurier, in denen er selbst seine Themen ankündigte, gleich mit den exakten Ratschlägen für die Werbung bei den Lesern. Ein begeistertes bürgerliches Publikum merkte rasch, dass hier wissenschaftliche Spezialkenntnisse belangvoll aufbereitet und auf Fragen der Jetztzeit zugespitzt wurden. Da arbeitete ein Professor nicht nur für geschlossene Regelkreise von Wissens-Institutionen, und seine Vortragsweise machte komplexe Zusammenhänge auf belebende verständlich, ohne fachsprachliches Blendwerk.
Damals schon, im Mai 1974, fragte der Thorbecke-Verleger Georg Bensch an, ob man aus der Vorlesung nicht ein Buch machen könne. Das war dem Vortragenden noch zu früh, aber er schätzte den Verleger aus der Zusammenarbeit um seinen Tagungsband für den „Konstanzer Arbeitskreis“. Nach seiner öffentlichen Vorlesung im Jahr 1976 bot er Bensch die Publikation von »Mönche am Bodensee« an.
Das Buch wurde eines seiner erfolgreichsten. Die Bodensee-Region hatte damit ein Grundlagenwerk über die verworrene Geschichte ihrer Zivilisierung, und anderswo wurden die „Mönche“ als ein Meisterkapitel der europäischen Geschichte des Mittelalters gelesen.

Aber es war bald nach der Jahrtausendwende vergriffen. Und damit sind wir nun doch noch bei der Buchvorstellung.
Es gäbe – wenn man an die Stationen von »Mönche am Bodensee« zwischen Bregenz und Schaffhausen denkt – viele stimmige Räume, in denen über Arno Borst gesprochen werden könnte. Das »konstanzer bücherschiff« ist heute der allerstimmigste. Denn alles begann fast auf den Tag genau vor drei Jahren damit, dass mich Monika Dörr aus der Buchhandlung hier anrief: sie habe am Wochenende wieder einmal in Arno Borst »Mönche am Bodensee« gelesen und das sei ja so toll geschrieben. Ob ich mich nicht endlich mal dahinterklemmen wolle, es sei ja schließlich seit Jahren vergriffen.

Ich rief noch am selben Tag Herrn Borst an. Wir hatten in den Jahren zuvor nicht viel Kontakt gehabt, aber einmal war von ihm ein Brief gekommen mit der beredten Klage über die Großverlage, die er von nun an weiträumig umgehen werde – enttäuscht darüber, wie bedenkenlos in den Buchabteilungen der Konzerne die Kontinuität von Überlieferung abgebrochen wurde. Er hatte da schon erlebt, wie Piper seinen Aufsatzband „Barbaren, Ketzer und Artisten“ aufgab und wie bei Ullstein – dem Haus seiner »Lebensformen im Mittelalter« – die Besitzer, Verleger und Lektoren wechselten. Er registrierte andererseits, mit welcher Nachhaltigkeit seine Bücher bei Wagenbach und Libelle auch nach 15 Jahren noch lieferbar blieben.
Es ging Arno Borst in jenem frühen Winter 2007 schon gesundheitlich schlecht. Einen Besuch wollte er nicht mehr. Aber ungebrochen war seine Fähigkeit, das eigene, unabwendbare medizinische Geschick in einem wissenschaftsgeschichtlichen Rahmen zur Distanz zu bringen: Er erzählte damals in fast heiterem Tonfall Details über die Erforschung von Blutgruppen und Blutkörperchen seit dem 20. Jahrhundert, und wie diese Forschung für ihn selbst zu spät fortschritt. Dass wissenschaftliches Interesse mit Überzeugungen zusammenzugehen hatte, gehörte zum Kern seines Denkens. Und so machte er sein bevorstehendes Ende damals gelassen zum Thema.

Er hatte ja schon viele Jahre zuvor das Gespräch mit den Toten als eine literarische Form wissenschaftlichen Nachdenkens wiederbelebt, mit am Tiefsten hatte ihn bei der Erforschung des Klosters Reichenau jene Gebetsbrüderschaft beeindruckt, die auf einer Gemeinschaft der Lebenden mit den Toten bestand. Und irgendwann war seine emphatische Betonung der Ansprechbarkeit der Toten zu einer Selbsttröstung geworden über ausgefallene Gespräche mit Lebenden; über das, was er als ein zu kurzatmiges Interesse an seiner Arbeit deutete.
Über das Sterben selbst hatte er keine Illusionen: Die Anfrage eines Rundfunk-Journalisten nach einem Beitrag zum Thema »Sterben im Mittelalter« lehnte er schon in den 80er-Jahren schlicht ab mit dem Bescheid: Darüber lasse sich nichts sagen, jeder müsse allein auf die Schanze und jeder erfahre dort etwas Anderes und Einmaliges, und keiner bringe es zurück. Schon im »Mönche«-Buch gehören die Passagen über das Sterben des Reichenauer Abts Wetti, ein Sterben in Angst und Verzweiflung, in wirrer Einsamkeit, trotz dem Beistand seiner Mitmönche, zu den packenden Vergegenwärtigungen.

Arno Borst war, als ich ihn am Telefon nach den »Mönchen« fragte, sogleich d’accord, das Werk fortan bei Libelle zu sehen, wies aber auf einen alten Vertrag mit Thorbecke hin. Den schickte er mir zur Einsichtnahme, und er bekam von mir per Mail einen Schriftsatz, mit dem er dem Verlag im vor-juristischen Bereich inklusive einer Terminsetzung für die Neuauflage Dampf machen konnte. Das war noch im Januar.
Ich gestehe, dass ich insgeheim erleichtert war. Die Hauptsache blieb ja, dass das Buch wieder verfügbar wurde. Und das Projekt einer kompletten Neuausgabe blieb bei näherem Hinsehen für unseren Verlag beängstigend groß.
Die Sache schien im späten Winter 2007 auf ihre Weise gut auszugehen. Unser letztes Telefonat drehte sich um die Zusage von Thorbecke, einen Neudruck im Herbst desselben Jahres zu besorgen. Der Autor war beruhigt über die Neuauflage seines Werks.
Nach dem überraschend baldigen Tod von Arno Borst aber kam die Sache ins Stocken. Es war zu hören, dass sie bei Thorbecke einen auch von Borst geschätzten Mediävisten, Johannes Fried, gern für ein Vorwort gehabt hätten, um dem Buch einen neuen Impuls zu geben. Das war verständlich, eine Neuplatzierung brauchte eine besondere Beleuchtung. Aber daraus wurde nichts. Im Sommer 2008 gab Thorbecke die Rechte zurück, nachdem Christiane Werner für die Familie Borst dem Verlag gegenüber strikt geblieben war. Jetzt konnten wir drangehen.
Es begann dann, was zu solchen Projekten gehört, ein Zeitalter der milden Angst. Nicht nur, wie zu finanzieren sei, was ein so unsicher gewordener Markt nicht gerade erwartete: Neuauflagen werden zwar sehr begrüßt, aber kaum vorbestellt. Wir bekamen einige Hilfen, die sind auf der Seite der Danksagung nachzulesen. Nicht abgedruckt haben wir das Schweigen aus Stadt und Landratsamt Konstanz, auch nicht die Kurzsichtigste aller Ablehnungen, sie kam aus Biberach von einem beamteten Kulturmann: Das Buch hätten doch schon alle. Das müsse doch nicht mehr aufgelegt werden.

Es war klar, dass die Textherstellung so aufwändige Korrekturgänge mit sich bringen würde wie bei einem Neusatz, das Einscannen von weit mehr als anderthalb Millionen Zeichen würde ein paar hundert Fehler neu produzieren. Maschinen verlesen sich gern bei römischen Ziffern (von denen es bei Bischöfen und Päpsten und Königen jede Menge gab), Maschinen erkennen auch manchmal den Unterschied zwischen einem kleinen l und einem kleinen i nicht recht; dann kann aus einem „weltabgewandt“ auch mal ein „weitabgewandt“ werden, und das soll es doch in einem Buch, in dem es um Weltabkehr und Weltzuwendung geht, möglichst nicht…
Am Text selbst durfte nichts verändert werden, zu Lebzeiten hatte Borst keine Aktualisierung am „Mönche“-Buch vorgehabt, nicht in der Sekundärliteratur, auch nicht an den Ortsbeschreibungen in der Einleitung, wo sich seither einiges verändert hatte. Die Steckborner werden inzwischen kurz stutzen, wenn die auktoriale Erzählung vom Schiff her noch die Kunstseidenfabrik in den Blick nimmt, den Friedrichshäflern wird kaum auffallen, dass am Rhein bei Petershausen noch eine Kaserne erwähnt wird, dafür lächeln die Konstanzer an dieser Stelle kurz und sehen vorm geistigen Auge die heutige Nutzung durch Stadtarchiv und Archäologisches Museum.

Keine Aktualisierung also. Arno Borst hat immer sehr entschieden von abgeschlossenen Projekten Abstand genommen. Im Jahrzehnt nach einer großen Arbeit wollte er dann partout nichts mehr zu Sammelbänden über Katharer beitragen, auch wenn er weiterhin europaweit als der Spezialist galt; er wollte keine Vorträge über Ritter mehr halten, als er den Sammelband für »Wege der Forschung« vollendet hatte. Er lehnte auch die weitere Beschäftigung mit den Staufern ab, mochten seine Auftritte im Zusammenhang mit der Stuttgarter Ausstellung der 70er-Jahre noch so wirksam im Gedächtnis der Medienleute geblieben sein.

Keine erweiterten Neuausgaben also. Man kann darin eine doppelte Klugheit erkennen: Wie er die Bücher früherer Historiker in ihrer zeitbedingten Ausformung ernst nahm, wollte er auch die eigenen Werke in ihrer Zeit stehen lassen. Zugleich wird eine Lebensökonomie aus Verweigerungen sichtbar, die seine Aufbrüche zu ganz anderen thematischen Feldern und sein streng lustvolles Weiterarbeiten an den selbstgesetzten Aufgaben ermöglichte.

Es gibt eine markante Ausnahme, und davon lohnt sich zwischendrin zu erzählen. Zu einem seiner erfolgreichsten Bücher kam der Historiker durch eine Ablehnung, und bei diesem Buch nervte er dann zwei Verlage mit Veränderungen und Erweiterungen bei jeder Neuauflage: weil es um ein Thema ging, an dem er in den nächsten 10 Jahren seines Lebens selber immer weiterlernte und dieses singulär gesammelte Wissen sogleich verbreiten wollte. Die Methoden der Zeitmessung im Buch »Computus« nämlich.

Die Ablehnung galt dem Verleger Klaus Wagenbach. Der hatte ihn wenige Wochen nach dem Fall der Mauer angefragt, im März 1990, ob er nicht sein Staufer-Thema wieder aufnehmen wolle. Wagenbach wünschte sich einen erweiterten Text von »Barbarossas Erwachen – zur Geschichte der deutschen Identität«. Der Berliner Verleger wollte das neu virulente Nachdenken über deutsche Kontinuitäten nicht einfach der politischen Rechten überlassen, von Borst wusste er, dass er diesen nationalen Mythos zerpflücken und nach den Ideologien der Überlieferung befragen konnte.
Die neu gegründete weiße Reihe der Kleinen Kulturwissenschaftlichen Bibliothek bei Wagenbach gefiel Arno Borst, im gediegenen Kontext der dortigen Autoren hätte er gern einen eigenen Text gesehen. Aber zu Barbarossa sagte er schlankweg Nein.
Die Art seiner Absage vom 8. April 1990 sei hier zitiert, weil sie die stürmische Unruhe zeigt, mit der sich dieser vordergründig so gelassene Mann jeweils zu neuen Ufern bewegte. Auch: wie strikt er Ansprüche abwehren konnte und zugleich doch für die Sache warb, die ihm wichtig erschien: »Die Stauferei hängt mir zum Hals heraus, ich sitze an viel aufregenderen Dingen, von denen versteht und weiß freilich noch niemand etwas, und so passen sie mindestens fürs nächste Jahrzehnt auch nicht zu Ihnen. Oder würden Sie meinen hundertseitigen Aufsatz ›Computus. Zeit und Zahl im Mittelalter‹ aus dem Deutschen Archiv für die Erforschung des Mittelalters 44, 1988, nachdrucken? Na, sehen Sie!«
Allein bei der Nennung der Zeitschrift wären wohl 99 von 100 Verlegern eines Publikumsverlags die Socken eingeschlafen. Dieser überaus belesene, fortwährend neugierige Klaus Wagenbach aber besorgte sich den Aufsatz, der ihm so listig genau genannt worden war. Und keine 10 Tage später schloss ein schwer begeisterter Verleger mit dem Autor einen Vertrag, das Buch wollte er noch zur Messe auf den Markt bringen. Am Beispiel Klaus Wagenbach kann man ahnen, was Arno Borst im deutschen universitären Bereich gefehlt hat: bei einem unkonventionellen und genau denkenden, an der gemeinsamen Sache heftig interessierten Gegenüber, bei anspruchsvollen aber unverbiesterten Mitstreitern lief er lustvoll zu Höchstformen auf.
Es wurde dann sehr anstrengend für den Verlag. Das Buch „Computus“ wuchs unter der Herstellung durch immer neue Zusätze des Autors noch mächtig an, der bereits fertige Satz musste, weil Arno Borst im Sommer 1990 noch Passagen über Wasseruhren der Antike einfügen wollte, nochmal komplett neu eingerichtet werden. Der Verleger stöhnte (zu Recht), er hantierte noch mit Schere und Kleister fürs Layout; der Autor bot mit der ihm eigentümlichen Rechtschaffenheit an, die angerichteten Mehrkosten am Satz selbst zu übernehmen. (Hochsubventionierte deutsche Verleger hatten ihn bei Änderungswünschen bereits ungeniert zur Kasse gebeten.) Wagenbach lehnte vermutlich auch deswegen ab, weil ihm noch kein Autor je so großzügig gekommen war…
Die Erweiterungen, die Arno Borst schon ein halbes Jahr später wünschte, als die zweite Auflage gedruckt werden musste, und später dann nochmals bei der dtv-Ausgabe - das waren Peanuts im Vergleich zum internationalen Erfolg dieses Buchs, auf Niederländisch, Italienisch, Türkisch etc.

Zu unseren »Mönchen« zurück –: Der unveränderte Text musste erst wieder hergestellt, dann aber auch deutlich anders präsentiert werden als bisher. Die Thorbecke-Ausgabe hatte viel zu anstrengend lange Zeilen, auch die Schriftgröße sollte komfortabler werden. Wir haben dann aus einem Buch mit 584 Seiten eines mit 680 Seiten gemacht. Bei einer Dreitausender-Auflage sind das 288.000 Seiten Papier zusätzlich. Okay, teurer, auch etwas schwerer. Über eine neue Buch-Ästhetik sollten diesem Meistertext neue Leser angelockt werden. Farbfotos, sogar noch als Lockung bis ins Register, sie sollten auf den ersten Blick schon deutlich machen, wie direkt der Autor seine Mittelalter-Erzählung mit der Landschaft am See verknüpft hat. Wir haben das nur durch eine rigorose Entscheidung geschafft. Der alte separate in Schwarzweiß gehaltene Bildteil von mehr als 100 Seiten musste wegfallen.

Auch wenn Arno Borst selber schon für die Taschenbuch-Ausgabe auf diesen Bildteil verzichtete hat: Die alten Bildtexte waren fast ein Büchlein für sich. Das wurde erst klar, als ich dank der großzügigen Erlaubnis von Gudrun Borst die Korrespondenz des Autors im Uni-Archiv sichten konnte. Der faszinierende Einblick in den Briefwechsel mit dem Thorbecke-Verleger Bensch zeigte, wie kenntnisreich und erfahren Arno Borst die Linien der Buchherstellung vorgab, wie er sich von Schwierigkeiten eher inspirieren ließ. Und wie ihm noch im Spätsommer 1978 bei jeder der Abbildungen ein dichter neuer Text unabdingbar erschien, weil er über den Originalen noch zu ganz neuen Einsichten kam... Damit hatte der Verleger nicht gerechnet, der hatte in jenem Sommer in seiner Sigmaringer Druckerei in einem engen zeitlichen Plan mit einer Technologie des Mittelalters zu kämpfen: „Mönche am Bodensee“ war eines der letzten noch in Blei gesetzten Bücher, und im Südweststaat gab es nur noch zwei Setzer, denen die Einrichtung des Textes zugetraut werden konnte.

Meine Erinnerung als Buchhändler behält: wie wir im Weihnachtsgeschäft 1978 den ganzen November und den halben Dezember vergeblich auf das Erscheinen dieser »Mönche am Bodensee« warteten. Und wie viele Kunden fragten sehnsüchtig danach, die zwei Jahre zuvor die öffentlichen Vorlesungen von Arno Borst gehört hatten! An einem eiskalten Dezemberabend brachte uns der Thorbecke-Verleger selbst, in seinem PKW, beladen bis an den höchsten Bord, die ersten par Dutzend dieses dicken blaugewandeten Buchs.

Das ist nun der Punkt, an dem ich gestehen muss: Ich habe die »Mönche« damals nicht gelesen. Mir war, auch vier Jahre nachdem ich Arno Borst aus einer Dissertation gehüpft war, nach Abstand zur Mediävistik.
Aber all die Jahre darauf gab es ja genügend andere, die das Buch immer wieder rühmten. Durchaus nicht nur am See. Als der Berliner Zeithistoriker Götz Aly vor zweidrei Jahren den Fragebogen einer großen Zeitung beantwortete, nannte er die Borst’schen »Mönche« als seine damalige Hauptlektüre.
Ich schwärme nun also umso überzeugter von einer frischen Erstlektüre her. Dieser 30 Jahre alte Text zeigte sich bei jedem Durchgang während der Herstellung frisch und noch vielschichtiger. Ganz gleich, ob es um die Jagd auf vorletzte Scannfehler ging oder ganz zum Schluss bei der Handarbeit des Registers für die geschätzt 8000 Verweise, mit denen der Text vernetzt wurde: So kam ich lustvoll in die Tiefenschichten dieser 25 Kapitel. Schwer zu entscheiden, was bewundernswerter ist: die Leichtigkeit seines Erzählstils, die kühnen Techniken der Verlebendigung, das Raffinement, mit dem dieser Historiker den Quellen noch Zwischentöne ablauscht bis in ihr Schweigen hinein. Köstlich zudem, mit welchem Sarkasmus er immer wieder aktuelle Subtexte seines Jahrzehnts in den Text flocht. Wenn die Stuttgarter Bürokratie lesefähig gewesen wäre, sie hätte im Umweg über die Schilderung eines Einsiedeler Abt dazulernen können:
»Als Gregor ankam stand die Klosterkirche fertig, die Konventsgebäude werden wohl bald gefolgt sein. Aber mittelalterliche Klostergründer wussten noch, was moderne Universitätsgründer verdrängen, dass der eigentliche Aufbau erst beginnt, wenn das Gehäuse steht. (…) Der Hochmut einer Modellgründung lag dem Abt von Einsiedeln fern.«
Die Konstanzer Rotarier, aus deren Club Borst gerade wieder ausgetreten war, nachdem er als Organisator ihrer Vorträge erlebt hatte, dass dort keine Erkenntnislust aufkommen wollte, sie hätten im Kapitel über das Petershauser Kloster wohl einige Sätze auf sich beziehen können, wo von der „Provinzialität ohne Intensität“ die Rede ist.
Im Mönche-Buch findet sich aber auch für alle, die das Spätwerk des Historikers verfolgt haben, die Schlüsselstelle, die ihn auf die Spur seiner größten Ambition setzte. Dort, wo er den Reichenauer Mönch Hermann den Lahmen beschreibt und das Problem der Zeitmessung im Mittelalter streift: »Er bemerkte, dass es für den Gottesdienst erforderlich war, die Stunden und Tage genau zu berechnen, wenn es (…) auf einheitliche Ordnung ankam. Dazu brauchte man das Astrolabium, ein Gerät zur Fixsternvermessung, das im Kloster niemand mehr richtig zu bauen verstand.« Zehn Jahre später wird Arno Borst den Weg erforscht haben, auf dem die Kenntnisse über das Astrolabium auf die Insel Reichenau gekommen waren.

Sie sehen: Es wuchs mir über meiner verspäteten Erstlektüre des Jahrs 2009 der Respekt vor diesem unübertroffenen Werk.
Wir wünschen uns ja im Chaos der erreichbaren Details immer wieder eine Synthese, also: dass einer den Mut hat, Entlegenes in ein überschaubares Bild zu fügen. Hier hatte erstmals ein Historiker die Kräfte zu fassen versucht und beschrieben, die diesen geographischen Raum, einen Urwald um den See und bis zu den Alpen hin, vom frühen Mittelalter an allmählich verbanden, auch zeitweise wieder auseinander driften ließen. Er tat dies am Beispiel der Einsiedler, Klostergemeinschaften, der Stadtgeistlichen und Bischöfe, spielte sein Wissen über adlige Machtansprüche, über Reichspolitik und die Zugriffe des Papsttums mit ein. Und dies mit einem Erkenntniswillen, der den in der Region bis dahin arbeitenden Historikern abging: Hier wurde die Gegend am See auch als Zielpunkt und Durchgangsraum von Fremden aus einem sich damals schon bildenden Europa durchleuchtet.

Wir kommen zum Schluss, und der soll doch hier am Ort der Buchhandlung noch kurz Arno Borst als Literaturleser beleuchten. Er war wohl der einzige Historiker seiner Generation, der neben den höchsten Auszeichnungen seiner Zunft auch drei literarische Preise bekam, den Bodensee-Literaturpreis, die Sigmund-Freud-Medaille für wissenschaftliche Prosa, den Brüder-Grimm-Preis. Was manche Kollegen an ihm nur irritierte, die Echos davon klingen nun bis in die Gedenktexte, wurde jenseits der Zunft als besondere Meisterschaft gewürdigt:
Seine so mühelos wirkenden Anstrengungen um einen verständlichen wie sachgerechten, nirgends auftrumpfenden Stil. Die Sprachlust, die weiß, dass mit Worten zum Weiterdenken verlockt werden kann, über das ungewisse Faktische hinaus.
Zu seinen Überzeugungen gehörte, was er im Mönche-Buch im Kapitel über die Deutschordensritter der Mainau so formulierte:
»Der Historiker muss die Macht der Illusion einbeziehen, wenn er die Fakten studiert.« Aus diesem Satz schimmert: dass er die Texte literarischer Einbildungskraft für nicht weniger wichtig hielt als historische Dokumente im engeren Sinn. Literatur gehört zum Raum geschichtlicher Erfahrungen. Und ihre besondere Ausformung verhilft zur Belebung der Welt: Wer so erfindungsreiche Kunstwerke liest, schärft sich das Handwerkszeug der eigenen Sprache. Dass Wissenschaftler, die nur Wissenschaft lesen, auf dürftiger Sprachstufe verharren und damit der Wirkung ihrer Arbeiten schaden: kein Geheimnis.
Arno Borst war ein begeisterungsfähiger Literaturleser, im Haus an der Längerbohlstraße gab es eine familiäre Kultur des Lesens, noch der Mittsiebziger hat mit seiner Frau zusammen Prousts »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit« entdeckt.
Die Spuren solcher Lektüren und damit seiner Waldgänge in jenem Erfahrungsraum, den Weltliteratur bereithält, finden sich in allen seinen Texten, vom kulturgeschichtlich erzählenden Werk bis zum Akademiebericht.

Nur drei Beispiele: Wenn Sie im Schlussabschnitt seiner „Mönche am Bodensee“ Christa Wolfs »Kindheitsmuster« zitiert finden: Arno Borst las das höchstwahrscheinlich in einer Ausgabe, die er wenige Wochen zuvor, im Herbst 1977, hier gekauft hatte.
Kein Wunder, dass es den Historiker und den Erzähler Borst fasziniert hat. Ein singuläres Buch in der deutschsprachigen Literatur: in der Erzählung ihrer eigenen Kindheit geht Christa Wolf an die Wurzeln der historischen Erzählbarkeit der Welt mit einer immer genaueren Problematisierung von Erinnerung, bis in die primäre Wahrnehmung hinein und die gefährlichen Stromschnellen der Sprache.

Wer in seinem Wälzer über »Die karolingische Kalender-Reform« bis auf Seite 545 kommt, findet dort Lars Gustafssons »Palast der Erinnerung« erwähnt, im Jahr vor der Fertigstellung des Manuskripts bei Hanser herausgekommen. Der Leser Borst schlägt nicht nur einen kühnen Bogen von Gustafssons „vertikalen Memoiren“ zum Biographen Einhard am Hof Karls des Großen. Er schaut dieses Belletristikbuch so genau an, dass ihm Kürzungen in der deutschen Ausgabe auffallen ...

Schließlich:
Im ersten detaillierten Forschungsbericht über Hermann den Lahmen und die bisherige Vernachlässigung dieses Vielseitigen, schließt er mit einer Volte, an deren Spott seine fachgelehrten Kollegen sich nur mäßig erfreuen konnten, es sei denn, sie waren Leser von Garcia Marquez’ »Hundert Jahre Einsamkeit«: »Die Ratlosigkeit der Forschung schadete dem literarischen Ruhm Hermanns nicht im geringsten. Einer der bekanntesten lateinamerikanischen Romane des späten 20. Jahrhunderts ließ den Helden eine Kurzfassung der astronomischen Studien des gelähmten Mönchs Hermann erforschen, die er von Zigeunern erhalten hatte; sie stand in seinem Lieblingsbuch neben Anmerkungen zur Dämonologie, einem Schlüssel zum Stein des Weisen und den Prophezeiungen des Nostradamus. So erlernte der Romanheld, ohne das geringste von seiner eigenen Zeit zu wissen, die Grundkenntnisse des mittelalterlichen Menschen. Hermann als Repräsentant archaischen Geheimwissens – man kann ihn nicht ärger verkennen. Er war ein Mann des offenen Gesprächs, freilich von einer sachlichen Vielseitigkeit, die unbegreiflich wäre, wenn sie nicht aus einer einfachen menschlichen Haltung hervorginge.«

Arno Borst formulierte das 1984. Damals war fast 60-Jährige noch überzeugt davon, dass er eine Monographie über den gelehrten Mönch in ein-zwei Jahren beenden könnte. Durch seine eigene sachliche Vielseitigkeit ließ er sich in den nächsten 20 Jahren dazu verführen, in immer neuen Nebenstudien, die zu Hauptwerken wurden, das durch Jahrhunderte verdunkelte Wissen des Reichenauers zu erforschen.

Und dann gibt es im digitalen Nachlass, also auf der Festplatte des PCs, an dem Arno Borst auch nach seinem 80. Geburtstag im Jahr 2005 noch schrieb, einen Text, der eine geheime Ambition seiner letzten Lebenszeit zeigte. Ein bewegendes Dokument auch des Scheiterns.
Aber nach so viel Gelungenem! In den sieben Jahren davor waren im Druck erschienen: die 900 Seiten seiner Darstellung jener Karolingischen Kalenderreform, die ihm als ein Quantensprung in der Zeitauffassung des Abendlandes erschien. Dann die in drei dicken Bänden editierten Kalendertexte aus der Zeit Karls des Großen samt ihrer komplexen handschriftliche Überlieferung bis ins 12. Jahrhundert. Danach der mehr als 200 Seiten starke Forschungsbericht »Der Streit um den karolingischen Kalender«, in dem er die internationale wissenschaftliche Kritik an seiner jüngsten Forschungsarbeit darstellte und bewertete. Und schließlich hatte der Achtzigjährige noch einmal für die vornehmste Schriftenreihe seiner Zunft die bislang übersehenen Schriften zur Komputistik im Frankenreich auf 1700 Seiten ediert.
(Und was heißt das: ediert?: gebeugt über Microfilme, die er sich aus den Bibliotheken Europas beschafft hatte – auf eigene Rechnung und mit mehrsprachiger Korrespondenz –, entzifferte er die lateinischen Handschriften, tastete sie buchstäblich in den PC ein und fügte seine Anmerkungen zur Textüberlieferung hinzu.) Es war die Nr. 337 in seiner Publikationsliste, die er seit dem Jahr 1951 führte. Die Kärrnerarbeit eines Gelehrten, der künftigen Forschergenerationen den Stoff bereitstellte.
Über die Anzahl der Zeitgenossen, die den Wert dieser Funde einschätzen konnten, machte er sich keine Illusionen. Ihn hielt eine ältere Zuversicht: Er selbst hatte ja erfahren, dass aus Historikerstimmen, die schon tausend Jahre verstummt waren, Auskünfte über alle Zeiten hinweg zu bekommen sind.

Für sich hatte er damals auch schon seine Selbstauskunft »Meine Geschichte« verfasst, angeregt von Büchern wie Huizingas »Mein Weg zur Geschichte« und Eric Hobsbawms Erinnerungsbuch »Gefährliche Zeiten«. Nicht nur für sich: Ein externer Leser bekam den Text damals schon in die Hand: Sein Schüler Gustav Seibt, der zu seinem 80. Geburtstag eine große Würdigung in der Süddeutschen Zeitung schrieb.

Aber insgeheim war ihm das nicht genug. Er wollte sich noch einmal daran machen, nach den Jahren einer immer spezialisierteren Fachhistorie, die Frucht seiner gewaltigen Umwege zusammenzufassen. Es war ihm ja nicht entgangen, dass er sich von jenem Ideal der Geschichtsschreiber entfernt hatte, die ihre Chroniken erst einmal für die mit ihnen lebenden Zeitgenossen verfassten.
Hermann der Lahme ließ ihn nicht los. Arno Borst nahm – zwei Jahre vor seinem Tod – jene thematische Einteilung noch einmal hervor, nach der er 1981 seine Vorlesung über Hermann gehalten hatte. Es war noch ein Typoskript, denn die PCs waren damals noch nicht erfunden. Auf der Grundlage eines eingescannten Textes begann er, was die Einleitung zur Vorlesungsreihe gewesen war, für ein Buch umzuschreiben. Die Themenliste für die einzelnen Kapitel änderte er nur wenig.
Er wollte sich noch einmal in jene Pflicht nehmen, aus der heraus seine wirksamsten Werke entstanden waren: die »Lebensformen«, »Mönche am Bodensee« und »Computus«. Selbstkritisch formulierte er: »Der heute vielbeklagte Schwund des Geschichtsbewusstseins mag vielerlei Gründe haben, einer von ihnen ist gewiss die Spezialisierung der modernen Geschichtswissenschaft.«
Auf 15 A4-Seiten seines Einleitungskapitels rekapitulierte er das bisherige Scheitern der Historiker an der Figur des Reichenauer Mönchs.
Er sah, wie er die Zeitbedingtheit und das eigentümliche Genie dieses Gelähmten und Konzentrierten (contractus), dieses in allen Wissensgebieten Erfahrenen im Lauf der Jahre anders aufzufassen gelernt hatte. Zitat: »Das waren die Fragestellungen der öffentlichen Vorlesung, die ich im Sommer 1981 an der Universität Konstanz hielt: ob Hermann der Lahme in diesem durchaus nicht modernen Sinn als Historiker in seiner Gegenwart, eben als Mensch in seiner Gegenwart besser als bisher verstanden werden kann. Im folgenden Vierteljahrhundert verlor ich die Fragestellung zwar nicht aus den Augen, wurde aber gerade durch Hermanns vielseitige Tätigkeiten auf andere Themen und ältere Zusammenhänge gelenkt. Jetzt kehre ich zu ihm zurück und will die Fragestellung von damals einer biographischen Gesamtdarstellung Hermanns als Buch zugrundelegen.«

Dazu konnte es nicht mehr kommen, die letzte Lebenszeit von Arno Borst war vom Niedergang seines Körpers beeinträchtigt. Und es ist eine müßige Frage, ob ihm seine Endkrankheit nicht auch eine Erfahrung erspart haben mag; ob sich die Gestalt des Reichenauer Mönchs einem biographischen Zugriff ergeben hätte. Oder ob, bei einem solchen Lebenswerk, wie Borst es sich abgefordert hat, nicht auch das Unvollendete zur Signatur werden musste.

Der letzte Satz seiner Einleitung zum Hermann-Buch ahnt die Schwierigkeiten, hält aber an beiden Aufgaben des Historikers fest: ins Offene zu fragen und eine Wegleitung zu versuchen. Dieser Satz: »Wir wollen sehen, wohin wir kommen, wenn wir ihn auf seinem Weg begleiten.«

 

© Libelle Verlag, 2010


Text: © Ekkehard Faude
Foto: Gudrun Borst im Gespräch mit Ekkehard Faude © Elisabeth Tschiemer

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