Schlaflos (Bild: Matthias Holländer)
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»Schlaflos in Ravensburg. Die lange Nacht der kurzen Geschichten«
in der Buchhandlung Ravensbuch in Ravensburg

Schlaflos: Das Buch der hellen Nächte.
Ein literarisches Notturno für Schlafsuchende und Wache
zusammengestellt von Manfred Koch und Angelika Overath.

Einleitung von Ekkehard Faude zur langen Lesenacht vom15. November 2002


Vor zehn Jahren, als RavensBuch noch so klein war, dass es nur gerade erst eine Ladentür hatte und als es so aussah, als ob das eigentliche Tafelsilber immer noch im ersten Stock verkauft würde, in einem Haushaltswarengeschäft nämlich: Vor 10 Jahren also, als der Ruhm des neu eröffneten Geschäfts noch nicht mal in die Konstanzer Gegend gedrungen war… – Und wenn er über Konstanz hinaus bis ans Schweizer Ufer gekommen wäre, hätte ich vermutlich geseufzt: na ja, wieder eine Buchhandlung dort, in der sie mir sagen: Libelle, das ist viel zu exotisch für die Leser in Ravensburg, das kaufen wir lieber nicht ein….
Vor zehn Jahren also haben wir bei Libelle in schöner Ahnungslosigkeit darüber, welch förderlicher Wetterumschwung in der Buchhandelsszene im Gang war, einen Roman veröffentlicht, der seinen Stoff einer durchwachten Nacht verdankt. Ein Deutscher, ein Chinese und ein Mongole, unterwegs in der Wüste Gobi, um Proviant für die große Expedition von Sven Hedin zu besorgen, sind von einer Horde unguter Männer mit sanftem Zwang in eine Höhle verbracht worden. Die Uniformierten behaupten, Soldaten auf legalem Kontrollgang zu sein. Der listige Mongole hält sie aber für schlichte Räuber, und der Deutsche, Fritz Mühlenweg, befürchtet das ebenso. Und so beschließen sie, die Nacht durchzuwachen. Als ihre Bewacher tief schlafen, fliehen sie zu Fuß in die Weite der grausamen Wüste. Ihre schlaflose Nacht wird zum Ausgangspunkt gefährlicher Abenteuer, auf einem Wüstenweg der »Pfad der Nachdenklichkeit« heißt. Es endet dann alles gut.
Es ist sogar im wirklichen Leben gut ausgegangen: Fritz Mühlenweg hat in seinem Roman nämlich eine Episode ausgestaltet, die er während der Expedition tatsächlich erlebt hat. Sein Reisetagebuch bricht in jener schlaflosen Dezembernacht des Jahrs 1927 ab, in der er mit dem mongolischen Begleiter eine tollkühne Flucht begann. Und es setzt wieder ein, zwei Wochen später, als er weiß, dass die ganze strapaziöse Geschichte dieses Gewaltmarschs durch die Wüste eigentlich nicht hätte sein müssen. Die Soldaten waren wirklich Soldaten. Die Lücke in seinem Tagebuch wurde ihm viele Jahre später zum Anlass für die Nacherfindungen eines ganzen Romans. Die Befürchtungen einer schlaflos verbrachten Nacht hatten zur Begegnung mit unvordenklichen Realitäten geführt. Selten sieht man die Geburt von Literatur so strikt mit aufgeschobenem Schlaf verbunden. Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer, wissen wir wenigstens seit Goya. Die Unvernunft aus provozierter Schlaflosigkeit kann schöne Folgen für Leser haben, wissen wir seit Mühlenweg.
Was ich damals vor 10 Jahren freilich auch nicht ahnte, war eine geheimnisvolle andere Verbindung, die über die Wüste Gobi nach Ravensburg führte: Margret Riethmüller war da nämlich schon viele Jahre mit der jüngsten Tochter des Autors Mühlenweg befreundet, aus gemeinsamen Tübinger Buchhändlerzeiten. Eine Passung für Libelle war da schon vorgezeichnet. Kein Wunder, dass wir dann schon bei der ersten langen Lesenacht mit dabei waren, damals wurde eine Erzählung Jacob Picards vorgelesen. Und unvergessen bleibt mir auch jener andere Abend, als ich zusammen mit Armin Abmeier von Büchern erzählte, er eher über seinen Tollen Hefte, ich eher über unsere Wissenschaftssatiren. Unvergesslich vor allem der Anfang des Abends, als wir uns auf die Treppe gesetzt hatten, um von dort aus zu improvisieren; und ich beim Blick bodenwärts sah, dass ich zweierlei Socken anhatte. Ich habe das damals natürlich sofort als Inszenierungstrick bekannt gegeben. Vielleicht hat es sogar jemand geglaubt. Vielleicht sind die Zuhörer damals sogar wegen dieser optischen Unstimmigkeit wach geblieben?
Es gibt in diesem Verleger-Beruf aber eigentlich ganz andere Gründe, schlaflos zu werden. (Nein, ich rede nicht von unbezahlten Druckereirechnungen, ausbleibenden Bestellungen oder ärgerlichen Rezensionen. Das sind Bagatellen). Der erste Grund ist die Angst des Verlegers, den unbekannten großen Autor zu verpassen und so an einem Bestseller vorbei zu schrammen. Es gibt schrecklich schöne Geschichten dazu, Verleger geben sie manchmal schon nach Jahrzehnten zu; manche bleiben auch nur im mündlichen Whisper. Der Entdecker von Trakl, Heym, Kafka, die verlegerische Spürnase Kurt Wolff z. B. hat einmal nach Jahrzehnten in seinen Unterlagen ein Blatt gefunden, einen Brief aus Triest, Mai 1920, offenbar nicht beantwortet, in gebrochenem Deutsch hatte ihm da ein Professore James Joyce ein Manuskript angeboten. Wolff wurde später siedent heiß bei dem Gedanken, dass er den Autor des Ulysses hätte bekommen können. Solche schrägen Blicke passieren dauernd, in jenen Jahren lehnte André Gide als Lektor von Gallimard einen Pariser Bohèmien namens Marcel Proust ab; der daraufhin, er konnte sich’s leisten, den ersten Band seiner "Recherche du Temps perdu" im Selbstverlag drucken ließ. Das findet auch in unseren Tagen statt. Ich weiß nicht, wer sich bei Diogenes darüber ärgern musste, dass er Robert Schneiders »Schlafes Bruder« dem Autor zurück geschickt hatte. Oder was sich Siegfried Unseld sagte, als er die Autobiographie der Ruth Klüger im Jahr seiner Ablehnung dann im Wallstein Verlag zum Bestseller werden sah. Oder wer im Hause Hanser vor drei Jahren errötet ist beim Gedanken: uns war Harry Potter angeboten, aber wir habens nicht gecheckt.
Wir sind da bereits tief in der anderen Malaise: Der zweite Grund für Schlaflosigkeit ist die ständig anschwellende Flut der unverlangten Manuskripte, die eine schrumpfende Verlagsszene treffen. Dieser nie abnehmende Berg von Unerledigtem, selbst bei Libelle kommen mehr als 700 im Jahr, die großen Kollegen haben mit 10.000 zu tun. Immer schon weiß man, dass eine Beantwortung gar nicht zu schaffen ist… Und das kommt ja von Absendern mit Fantasien, Wünschen, wirren Träumen vom sich Gedruckt sehen, vom Eintritt in den Wanderzirkus zeitgenössischer Literatur, von der Teilhabe an der Maschinerie der tausend Literaturpreise und Stipendien. Der wegrationalisierte Online-Banker will dann den Wirtschaftskrimi schreiben, der die Machenschaften seiner Bank mit unterbewerteten Tagesgeldern bekannt gibt. Der Zivi hat in seinen Wache-Nächten die finale Kurzprosa ersonnen, in der er einen eigentlich 80 Jahre alten Dada neu erfindet und gleich auf Multimedia-CD einreicht. Der einst hoch gehandelte Schriftsteller, dem seine ehemaligen Verlage abgesagt haben und der mit einem trotzig selbstverlegten Buch gescheitert ist, und immer noch hofft, seine Todesphantasie um Jean Paul respektabel verlegt zu sehen.
Man verliert den Schlaf, wenn man an all die Hoffnungen denkt, die man laufend enttäuschen muss. Bei Libelle geschieht es immerhin alle drei Jahre, dass wir aus dem Geschiebe der laufenden Post etwas heraus sieben können, das der Überlieferung wert ist und dem wir heftig wünschen, dass das eigene Lesevergnügen, der eigene Erkenntnisgewinn sich respektabel am Markt durchsetzen lasse. Vor etwas über drei Jahren hieß der unbekannte Einsender, der die Hürde schaffte, Ulrich Ritzel.
Und dann gibt es also diese beste Sorte Schlaflosigkeit: die durchwachte Nacht über einem erstmals gelesenen Text: Vor 6 Wochen, ich darfs ja schon mal verraten, ist es wieder einmal passiert, da waren eine Leseprobe von 20 Seiten und das Exposé so interessant, eine leichte, präzise, direkte Erzählart, von einer Unbekannte im Kölner Raum geschickt, dass wir den Rest angefordert habe. Als der endlich kam, wurde eine leicht fiebrige Schlaflosigkeit daraus, und weit nach Mitternacht das Glücksgefühl, wie ihn eine gelungene Erzählung bewirken kann: Eine Geschichte vom Rand unserer Jahre, erzählt von einer unruhigen Jungen, die aus Schule und Lehre abhaut, sich ein paar Jahre jenseits aller Sicherheiten durchbringt, die harte Tour des Nomadenlebens in unseren Städten, unter Obdachlosen, die uralte Geschichte vom höchsteigenen Weg dann eigentlich, ein riskantes, hartes, ehrgeiziges Leben, ohne Selbstmitleid erzählt, die glücklich verlaufene Geschichte einer Straßenmusikerin zuletzt. Sehr fern von dem gelangweilten Markenshopping der Generation Golf.

Ende der Abschweifungen: Glücklicherweise gibt es neben den Schlaflosigkeiten in der Verlegerei auch die Klarheiten des Tages. Am 8. Februar vergangenen Jahres rief Angelika Overath an, sie habe ein Projekt mit Ihrem Mann vor, das könnte zu Libelle passen, eine Anthologie mit lauter Texten zur Schlaflosigkeit. O ja, sofort und sehr gern, sagte ich damals. Mir sind die solitären brennenden Stunden zwischen 1 und 6 selber wohlbekannt. Von der unbekannten Bruderschaft der Schlaflosen wollte ich gern mehr erfahren.
Bei Angelika Overath hatten wir schon zweimal am rechten Fleck JA gesagt und schöne Bücher bekommen mit ihren wahren Geschichten (»Händler der verlorenen Farben«, »Vom Sekundenglück brennender Papierchen«). Mit ihrem Mann Manfred Koch, Germanist an der Uni Tübingen, hatte sie bei Herder und Eichborn Anthologien gemacht und die beiden waren dabei offensichtlich auf den Geschmack gekommen. Eine enorme Belesenheit und Texterfahrung in mehreren Literaturen kommt ihnen da zu Hilfe. Es gehört dann aber eine besondere Könnerschaft dazu, dass aus den Gewürzen fremder Bücher ein Potpourri mit unverwechselbar eigener Sensation entsteht.
Schlaflosigkeit also. Auf dem Buchmarkt war das in den letzten Jahren ein interessantes Thema im Sachbuchbereich. Eine Sammlung mit literarischen Texten gab es vermutlich noch gar nicht. Und dann – Verleger sind ja Köche, die zwar gern Drei Sterne kriegen, noch öfter aber vom Zulauf einer Volksküche träumen –: welch gigantische Zielgruppe. Es gibt doch weit mehr Schlaflose als Dieter-Bohlen-Fans. Millionen werden dieses Buch kaufen…

Von der Knochenarbeit ahnte ich glücklicherweise damals noch nichts. Mehr als 80 der über 100 Texte in unserem Buch waren lizenzpflichtig, man muss da mit fremden Verlagen jeweils Verträge machen. Zur Belohnung gab es die mitfühlenden Seufzer der Kolleginnen in Lizenzabteilungen in München, Zürich, Hamburg, Frankfurt, es gab eine Krakelzeichnung in einem Brief von Christoph Meckel aus Südfrankreich mit der Bekanntgabe seiner Kontonummer für ein Gedicht der 50er Jahre (sie werden es nachher sogar hören), es gab das Fax von Durs Grünbein aus Berlin mit der Mahnung: ja nichts zu verändern; es gab die heiteren E-mails von Richard Frost aus Washington, der seinen cash im Umschlag haben will: 20 Euro als Notgroschen für den nächsten Besuch im HofBrauHaus.

Und zwischendrin, je mehr Texte die rastlos tätigen Herausgeber aus Tübingen schickten: dieses Vergnügen an fremden Schlaflosigkeiten, auch ein Erstaunen darüber: wie harmlos die eigenen Wachnächte eigentlich sind, verglichen mit den erschreckenden Abgründen, von denen einige Texte erzählen. Welche Wohltat, dass mir die kindlichen Angsterfahrungen von Peter Weiss oder Erika Burkart erspart blieben. Wie gut, dass ich nicht nächtelang Radfahren muss wie der Schlafgestörte bei John Irving. Dass ich mir auch nicht Trost anfressen muss vorm nächtlichen Kühlschrank wie der hungrige Hoffman bei Leon de Winter. Welch ein Segen, dass meine Nächte ohne die Medikamente auskommen, die Ernst Jandl besingt. Erheiternd, wie die Kaschnitz die Ursache des befremdlichen Geräuschs aufklärt, von dem sie nächtelang beunruhigt wurde. Schlimm-köstlich die keifende Eifersucht der Ehefrau bei Pirandello, weil ihr Mann schon wieder im Schlaf gelacht hat. Und jene New Yorker Nacht der Emigranten, von der Hans Sahl erzählt, wie er vom notorisch Schlaflosen Erich Maria Remarque in einem Nobelrestaurant durchgefüttert wird, Stunde um Stunde, bis zum Morgengrauen.
Meine Damen und Herren, in der vergangenen Woche hat Rolf Vollmann in der ZEIT diese wie er schrieb »ungewöhnlich schöne Anthologie« wortreich gelobt. Sie bekommen’s nun live. Die lange Nacht der kurzen Texte - das klingt natürlich nicht ganz zufällig schräg nach einer Nacht der langen Messer. Texte, wenn sie gut sind, haben Schärfe, sie ritzen an Erinnerungen, bringen an den Rändern der Schmerzlust eigene Fantasien zum Aufdampfen und, wenn sie das kleine flatternde Erschrecken über längst vergessene Müdigkeiten anrühren oder jenes wohlige Wiedererkennen endlich gewonnener Ruhe: dann bewährt sich der alte Zauber von Literatur.

Frau Schwarz wird uns so etwa den Rosinen im Inhaltsverzeichnis entlang führen. Es beginnt mit dem Prolog von Charles Simic.
auch da: »Du musst dein Herz weit machen.«.

© Libelle Verlag, 2002


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