Schlaflos, Umschlag Koch/Overath
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»Die lange Nacht der Bücher«
in der Buchhandlung pan 41 in Renningen bei Stuttgart

Schlaflos: Das Buch der hellen Nächte.
Ein literarisches Notturno für Schlafsuchende und Wache
zusammengestellt von Manfred Koch und Angelika Overath.

Einleitung von Ekkehard Faude zur langen Lesenacht vom 26. Oktober 2002


Peter Jakobeit hatte die Idee, ich solle Ihnen zu Anfang ein wenig aus dem Nähkästchen der Verlegerei plaudern. Wie es zu dieser Anthologie gekommen sei, und wie es hinter den Kulissen bei einer solchen Sammlung überhaupt zugeht. Es wäre aber viel zu gefährlich, wenn ich drauflos plaudern würde. Das könnte bis weit in die Winterzeit hinein dauern. Und Sie wollen ja Texte aus dem Buch hören. Wir haben aber Glück: In der Nacht auf Freitag hat mir eine Schlaflosigkeit aufgelauert. Nichts Schöneres, als nachts ab drei, beim säuselnden Wind eines Laptops, einen Text zu schreiben für die Unbekannten Leser in Renningen… Der dauert exakt 11 Minuten. Danach kann’s dann losgehen.

Ums Haar hätten wir Ihnen heute Abend eine Sammlung mit Hundegeschichten vorgestellt. Am 8. Februar vergangenen Jahres nämlich ging das Telefon, und Angelika Overath berichtete von zwei neuen Buch-Projekten. Das ist im Verlag jeweils eine kitzlige Situation, wenn ein Autor Ideen für künftige Zusammenarbeiten verlautbart. Autoren sind, man darf das ja mal laut sagen, eigensinnige Kinder, sie leben ganz in ihrem Kosmos, der natürlich die einzige aller möglichen Welten ist.
Verlage ihrerseits wären gern Planeten auf sicheren Umlaufbahnen, rotierend in ihrer Ellipse um Geist und Geld. Sie sind aber eher Satelliten, an denen dauernd defekte Sonnensegel repariert werden und die mit jedem neuen Buch ein wenig die Richtung ändern. Unpassende Projekte können sie ins Trudeln bringen. Viele verglühen derzeit.
Libelle ist kein Großverlag, aber selbst wir müssen über 2000 mal "nein" sagen zu einem kompletten Manuskript oder einem Projekt, um in der Bahn zu bleiben. Im richtigen Moment dann »ja« zu sagen, darin besteht eine der Künste.
Bei Angelika Overath hatten wir schon zweimal am rechten Fleck JA gesagt und schöne Bücher bekommen. Zwischendurch hatte sie mit ihrem Mann, Manfred Koch, zusammen bei Herder und Eichborn Anthologien gemacht und die beiden waren offensichtlich auf den Geschmack gekommen. Ihre enorme Belesenheit und Texterfahrung in mehreren Literaturen kommt ihnen da zu Hilfe. Anthologien-Machen hat ja Einiges mit dem Kochen eines aufwändigen Eintopfs gemeinsam: die wichtigen Zutaten sind im Haus, und es kann ein aufregendes Vergnügen werden, daraus etwas Neues, Stimmiges, für den Lesegaumen Reizvolles zusammenzubrauen…
Angelika Overath am Telefon also, und in ihrer Stimme eine Klangfarbe wie Weihnachtsabend kurz vor der Bescherung. Eine Anthologie mit Hundegeschichten… Das war nicht ganz verwunderlich. Eine ihrer eindrücklichsten Geschichten aus ihrem letzten Band handelt von der Erziehung eines Blindenhunds. Zudem leben die Koch-Overaths mit einem Hund zusammen, das sechste, vollberechtigte Mitglied der Familie; sie schlagen die schönsten Ferienziele aus, wenn der Gingerhund dort unerwünscht ist. Eine Sammlung mit Hundegeschichten also.
»Oh nein«, stöhnte ich dennoch: »Das hält unser Kater nicht aus.« Das war einerseits wahr, andererseits freundlich gelogen. Eigentlich dachte ich damals: Nicht doch, die dreihundertsiebenundzwanzigste Sammlung mit Hundegeschichten, da werden die Buchhändler erstmal die Augen verdrehen. Peter Pan in Renningen wird trocken sagen: von Libelle sind wir eigentlich Neues gewohnt. Und Frau Schröder in ihrer Stuttgarter Zeitung wird das Buch freundlich entschlossen aus jenem Regal wegräumen, in dem Novitäten auf ihre Besprechung warten.
»Das hält unser Kater nicht aus«, sagte ich also laut.
Libelle hat nämlich als dritten Mitarbeiter einen Verlagskater. Mal wärmt er den Kopierer vor, indem er sich auf der Abdeckung zur Ruhe legt. Mal macht er es sich in jener Faltschachtel bequem, in der wir ankommende Rezensionen erstmal sammeln. Nicht davon zu reden, dass bei der Suche nach optimaler Ausrichtung seines Strechings auf dem Schreibtisch, an dem eigentlich die Buchhaltung stattfindet, auch schon mal ein Locher so über den Rand befördert wird, dass auf dem Boden sofort die Fasnacht anfängt. Auch versichert er morgens um drei durch unüberhörbare Sprünge an die Tür, dass es durchaus schon Zeit sein könnte für einen extraordinären Nachtfraß. Eine Katze im Verlag ist also die überaus nützliche, tägliche Vorbereitung auf den Umgang mit Autoren. Sehr eigensinnige Wesen. Jagen Mäuse, die es zuweilen nur in ihrer eigenen Vorstellung gibt. Und wenn sie kommen, wollen sie gestreichelt werden. I am the cat, walking by myself, and all places are alike to me.
»Dann hätten wir noch eine Idee«, sagte Angelika Overath darauf. Eine Sammlung mit Texten über Schlaflosigkeit.
Das leuchtete mir sofort ein. Schlaflosigkeit. Auf dem Buchmarkt war das in den letzten Jahren ein immer wieder interessantes Thema im Sachbuchbereich. Eine Sammlung mit literarischen Texten gab es vermutlich noch gar nicht. Also fein, für Libelle. Und dann – Verleger sind ja Köche, die zwar gern Drei Sterne kriegen, noch öfter aber vom Zulauf einer Volksküche träumen -: welch gigantische Zielgruppe. Es gibt doch weit mehr Schlaflose als Dieter-Bohlen-Fans. Millionen werden dieses Buch kaufen…
Wahrscheinlich sprudelte ich damals, als wir sogleich beschlossen, diese Idee anno 2002 zu verwirklichen, die ersten literatürlichen Assoziationen: Arno Schmidt, der seine Schreibnächte zwischen den Zettelkästen in Bargfeld ab zwei Uhr Morgens mit Nescafé antörnte. Cioran, schlaflos durchs nächtliche Paris streifend, und hinter ihm die junge Yasmina Reza, die sich nicht traut, den großen alten Mann anzusprechen, aber Jahre später aus diesem Erlebnis eins ihrer Theaterstücke macht. Die Bachmann, erfahren in Schlaflosigkeiten: "wach im Zigeunerlager und wach im Wüstenzelt"… Lauter Einfälle also, die ein Buch gleich wieder aus der Dieter-Bohlen-Sparte hinauskatapultieren.

Vielleicht habe ich auch gesagt: Schlaflosigkeit, prima, endlich einmal ein Thema, in dem ich mich auskenne. Da könnte ich sogar mitschreiben. »Au ja«, sagte die Herausgeberin darauf, »schreib doch einen Text!« - »Ich könnte über die nachgereichten Philosophien schreiben, mit denen ich am Morgen jeweils meine Frau nerve. Die Mutmaßungen über mögliche Ursachen für die Schlaflosigkeit der Nacht davor, Störungen zwischen Körperchemie und Weltall: Der Vollmond! Der Föhnsturm! Der zu spät und zu stark aufgebrühte Nachmittagskaffee. Der dritte Nachschlag beim Kartoffelsalat. Der Birnenschnaps, mit dem jene dritte Portion dann bekämpft wurde. Die schreckensvolle Wasserflut vom Horizont im letzten Alptraumbild. - Ich bin sogar mal aufgewacht an einem trocken kratzenden Geräusch, das sich nach horrifizierter Nachforschung als die Abseilbewegungen einer Spinne hinter der Wölbung eines Posters entpuppt hat.« – »Ja, fein«, sagte die Herausgeberin, »schreib das doch!« – »Oder«, sagte ich, » ich schreib über Schlaflosigkeiten, die unvergesslich bleiben. Die Augustnacht 1968, als die Nachrichten den Einfall sowjetischer Panzer in Prag meldeten. Oder der Jasminduft jenes viel früheren Sommermorgens, schaukelnd in einem fremden Garten, am Ende einer durchtanzten Nacht.«
Und die wundervolle, nie vergehende allererste Schlaflosigkeit der Kinderzeit. Sie wirkt nach wie einer der Schwebfäden im eigenen Auge, bewegt sich weg, sobald man ihn fixieren will. Das muss im 4. Lebensjahr gewesen sein. Die Familie unterm schrägen Dach, neben der Wohnküche das Schlafzimmer, mein Bett war nach der Geburt meiner jüngsten Schwester ans Fußende des Elternbetts gerückt worden. Ich lag so dem Fenster entgegen. Und in jener Nacht, in der ich allein wach lag für lange Zeit, – die Erinnerung hat alle Atemzüge von Mutter, Vater, den Schwestern ins Off gerückt -, schaute ich den Bewegungen der Vorhänge zu in einem sachten Wind, der vom Mond kam. Ob ich durch den Fuchs wach geworden war, der am Fuß des Rebhangs eine Runde um den Hennenstall der Großeltern gemacht hatte: keine Ahnung. Dass der Vorhang aus der Seide eines Fallschirms gefertigt waren, niedergegangen in Russland, erfuhr ich erst viel später. Der leichte Stoff im Licht einer Nacht, Schattenbewegungen, eine wohltuende Kühle. Eine Erinnerung ohne Angst. Eine Vereinzelung, aber unbedroht. Vielleicht hat sich in dieser ersten schlaflosen Stunde eine Grundierung kristallisiert, die das wache Alleinsein künftiger Nächte in Geborgenheit aufhob.

Aber das ist Rühren im Kaffeesatz, eigentlich bleibt da nur die Szene mit dem Licht im wehenden Vorhang. Der Text ist dann auch nicht geschrieben worden. Er blieb hängen in jenem Unterschied, den es auch in der Verlegerei gibt, zwischen hoch gestimmter Erwartung zu Zeiten der ersten Schwangerschaft und den Wochen, in denen die Windelarbeit anfängt. Unvordenklich, was eine solche Anthologie an ganz Kleinkram bringen kann. Ich meine jetzt nicht die Entscheidung meiner Frau darüber, ob sie die metrischen Strichlein einer Klassikervorlage von Barocklyrik einfügen solle oder welche Rechtschreibung wir eigentlich nehmen bei Texten aus mehreren Jahrhunderten. Auch nicht die 213 Fehlermeldungen der Software beim Versuch, einen kurzen Fraktur-Text von Thomas Mann einzuscannen. Schon gar nicht die Überraschung, wenn sich Anfang Juli herausstellt, dass es für einen bereits eingearbeiteten Gide-Text inzwischen eine Neuübersetzung gibt. Hinter aller Poesie ein Geflecht von Juristica: Einzelverträge über Autorenrechte, Verlagsrechte, Übersetzerrechte, für über 80 Texte einzeln zu erfragen. Rilke und Hofmannstahl sind glücklicherweise schon mehr als 70 Jahre tot, an Hesse verdient immer noch Suhrkamp.
Zur Belohnung gab es die mitfühlenden Seufzer der Kolleginnen in Lizenzabteilungen in München, Zürich, Hamburg, Frankfurt, es gab eine Krakelzeichnung in einem Brief von Christoph Meckel aus Südfrankreich mit der Bekanntgabe seiner Kontonummer, es gab die heiteren Emails von Richard Frost aus Washington, der seinen cash im Umschlag haben will: 20 Euro als Notgroschen für den nächsten Besuch im HofBrauHaus.
Und zwischendrin, je mehr von den Texten aus Tübingen eintrudelten, dieses Vergnügen an fremden Schlaflosigkeiten, auch ein Erstaunen darüber: wie harmlos die meinen eigentlich sind, verglichen mit den erschreckenden Abgründen, von denen einige Texte erzählen. Welche Wohltat, dass mir die kindlichen Angsterfahrungen von Peter Weiss oder Erika Burkart erspart blieben. Wie gut, dass ich nicht nächtelang Radfahren muss wie der Schlafgestörte bei John Irving, mir auch nicht Trost anfressen muss vorm nächtlichen Kühlschrank wie der hungrige Hoffman bei Leon de Winter. Welch ein Segen, dass meine Nächte ohne die Medikamente auskommen, die Ernst Jandl besingt. Erheiternd, wie die Kaschnitz die Ursache des befremdlichen Geräuschs aufklärt, von dem sie nächtelang beunruhigt wurde. Schlimm-köstlich die keifende Eifersucht der Ehefrau bei Pirandello, weil ihr Mann schon wieder im Schlaf gelacht hat. Und jene New Yorker Nacht der Emigranten, von der Hans Sahl erzählt, wie er vom notorisch Schlaflosen Erich Maria Remarque in einem Nobelrestaurant durchgefüttert wird, Stunde um Stunde, bis zum Morgengrauen.
Meine Damen und Herren, und jetzt bekommen Sie endlich die richtigen Texte zu hören. Wir gehen so etwa den Rosinen im Inhaltsverzeichnis entlang. Es beginnt mit dem Prolog von Charles Simic.


© Libelle Verlag, 2002


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