August 2000

Ekkehard Faude
Vom fortdauernden Vergnügen, Scheffels »Ekkehard« zu lesen

Als Verleger ist man eigentlich dauernd im »Garten der Erinnerung«, aber ganz selten bekommt man Gelegenheit über ein Buch mit soviel Vergangenheit so dicht am Schauplatz der Handlung zu sprechen. Ich will mit einem ganz privaten Gang in die Erinnerung beginnen. (Es gibt die ganz privaten Erinnerungen gar nicht: sie sind immer vom Öffentlichen durchfärbt.)
Der Anfang ist trivial: Meine Eltern kamen auf die Idee, ihren Sohn »Ekkehard« zu nennen. Sie hatten Scheffels Roman nicht gelesen, es ließe sich sonst mutmaßen, sie hätten mit diesem Namen die eklatanten späteren Berufswechsel ihres Zweitgeborenen provoziert. Der Name flog ihnen über den Gartenzaun zu, in der Nachbarschaft wurde ein kleiner Junge so gerufen. Dessen Eltern müssen Scheffels Roman wohl gelesen haben, denn eine Schwester jenes kleinen Ekkehard hieß Hadwig. Da es aber dort noch zwei Schwestern namens Gudrun und Gisela gab und der Vater dieser Kinder sogar in brauner Uniform zur Sonntagsmesse gegangen war, in den verheerend kriegerischen Jahren vor meiner Geburt, dämmert bereits ein völkisch-germanischer Zusammenhang von Rezeption, für den Scheffel freilich nur wenig kann.
Man nannte damals (1946) Jungen eigentlich schon eher Peter oder Heinz oder Walter. Ich bin während meiner ganzen Schulzeit nur noch einem einzigen anderen Ekkehard begegnet, einer Hadwig nie wieder. Eine prägende Wirkung der Scheffelschen Romanfiguren, so lässt sich also annehmen, war schon vor der Jahrhundertmitte verblasst.
Den Hohentwiel-Roman bekam ich erst geschenkt, als ich 11 oder 12 war, verschlang ihn gleichzeitig mit einigen sehr geliebten Ganghofer-Romanen, Edith-Blyton-Bänden, überhaupt Schneider-Bücher. Ich habe ihn gern gelesen, er hat mir aber offen gestanden nicht so viel Eindruck gemacht wie Ganghofer, dessen Mittelalter-Roman »Die Trutze von Trutzberg« mit Belagerung und Pechpfannen und Hühnervölkern im engen Burghof mir eindrücklicher blieb und den der bundesrepublikanische Nachkriegsfilm zielsicher als Stoff holte.
Manche Bücher liest man zu früh. Die Scheffelschen Landschaftsschilderungen um Bodensee und Hegau sind für einen heranwachsenden Spannungsleser, selbst wenn er am See wohnt, eher lästige Passagen einer Geschichte. Auf die Finessen der humoristischen Schreibart Scheffels kann man mit 11 noch nicht angemessen reagieren. Den literarischen Gaumen für eine Szene, in der die Herzogin dem Mönch seine Vergil-Lektüre dadurch dekonstruiert, dass sie ihm die Männerphantasien des alten Lateiners nachweist, bekommt man erst später. Für das gelehrte Ambiente der Klosterwelt St. Gallens, das Scheffel so geschickt in seine Handlung einbaut, fehlte mir das Interesse. Und diese schwierige, abtrudelnde Liebesgeschichte zwischen Herzogin und Mönch...: also da war doch in jedem Ganghofer-Roman, von den gleichzeitig verschlungenen Lore-Heften zu schweigen, nach dem üblichen Hürdenlauf ein handfesteres Happyend garantiert. Dieser Autor trieb seine Hauptfiguren nach Bezichtigungen und Selbstvorwürfen als Solitäre in ungewisse Zukünftigkeiten auseinander. Befremdlich.
Es ist bezeichnend, dass mir Jahrzehnte danach außer dem Schwirren eines Pfeils samt Pergamentrolle und einer pathetischen Handgreiflichkeit in dämmrigem Kapellengewölbe eigentlich vor allem der Handlungsstrang um Audifax und Hadumoth erinnerlich war. Mit den etwa gleichaltrigen Hirtenkindern hatte ich mich offenbar damals bei der ersten Lektüre identifizieren können. Sie sind womöglich mit ihren späteren belletristischen Verwandten, dem Heidi und dem Geißenpeter in Johanna Spyris Roman zusammengewachsen, in jener Nebenwelt, die sich mit den Figuren unserer frühen Lieblingslektüren füllt. Eine Nebenwelt, von der geheimnisvolle und selten sorgfältig ergründete Wirkungen auf unser Leben ausgehen. Vielleicht hat mich – wenn es um die untergründige Komposition von Frauenbildern geht - diese entschlossen aktiv handelnde Teenie-Frau Hadumoth, die ihren Audifax selbst aus Feindeslager befreien geht, nicht weniger beeindruckt als Stifters Brigitta.
Gelesenes wird vergessen oder verändert sich im chemischen Bodensatz des Gedächtnisses. Manchmal kann daraus ein Schrecken werden, manchmal ein träumerisches Bild. Audifax und Hadumoth: ich hatte weder ihren Gang zur Waldfrau noch die Verschleppung durch die Hunnen nachhaltig in Erinnerung behalten. Die Hirtenkinder blieben aber assoziiert mit der Erscheinung des Regenbogens. Ja, ich habe quer durch die Jahre bei manchen Regenbogen überm Bodensee an das Motiv gedacht: wie Audifax versucht, ein Ende des Regenbogens zu erreichen, jenen Fleck, wo die farbigen Strahlen dann doch endlich die Erde berühren, weil er dort einen Schatz finden und ausgraben konnte. Es musste erst das Jahr 2000 anbrechen, als ich nach 43 Jahren Scheffels Roman zum ersten Mal wieder las, damit ich realisieren konnte, dass sogar diese einzige nachhaltige Erinnerung an den Roman so dort gar nicht stand. Mir war der letztlich ja dann erfolgreiche, aber von keinem Regenbogen garantierte Raub des Hunnenschatzes mit jener schönen Legende zusammengeschmolzen, die Audifax seiner Freundin in traulichtem Gespräch am Berghang erzählt: dass bei jedem Regenbogen zwei Engel vom Himmel kommen und Goldschüsselchen dort auf die Erde stellen, wo der Bogen sonst die Erde berühren würde.
Durch diese Einleitung ist die Problematik eigentlich eher schärfer geworden. Wie kommt man als Verleger dazu, einen 150 Jahre alten Roman wieder auflegen zu wollen, mit dem man selbst nur so verschwommene Bilder verknüpft?
Der Scheffelsche Ekkehard ist für mich die Geschichte eines Umwegs.
Ich hätte ihn gern vor fast 20 Jahren schon verlegt, ganz am Anfang. Bücher mit der Libelle gibt es seit 1979. Und der Anfang war vom Verlagsort Konstanz aus vor allem mit regionaler Kulturgeschichte und Literatur gemacht: An Pädagogikbücher, die später den wichtigsten Sachbuchzweig bildeten, war noch nicht zu denken. Zwei Wissenschaftssatiren gab es schon, dass es einmal Stücker 15 werden sollten, veritable Seller darunter, stand in den Sternen. Der weitere Bodensee aber mit seinem Traditionszusammenhang, der eigentlich vor der Tür zu liegen schien, in dem ich selbst aber ziemlich kenntnislos aufgewachsen bin: Da gab es doch einiges zu entdecken.
Ich hatte zwar zuletzt an der Universität Konstanz neben Geschichte auch Literaturwissenschaften studiert, dort aber keine Veranstaltung erlebt, die sich um regionale Literatur gekümmert hätte. Das Heil des Fachs Germanistik wurde damals in Richtung »Poetik und Hermeneutik« gesucht, in fächerübergreifender Theoriebildung, und die Inhalte hatten von weiter her zu kommen.
Es bleibt bezeichnend für die ersten drei Jahrzehnte der Universität, dass das einzige, und gleich gewaltige Überblickswerk einer dann auf einmal verblüffend reichhaltig sich zeigenden Literaturgeschichte des Bodenseeraums (»Bohème am Bodensee«) nicht aus universitärer Forschung kam.
Einen starken Impuls zur Erforschung der historischen Tiefenschichten in der näheren Umgebung bekam ich eher aus Veranstaltungen der Historiker, die in den frühen 70er Jahren mit oral history und Regionalgeschichte begannen. Martin Broszat hatte das initiiert. Aus dem Kreis solcher Historiker, die sich mit der 48er-Revolution am See beschäftigten, wurde mir zum Beispiel eine Kopie des Konstanz-Romans von Carl Spindler zugespielt. Damals war ich aus den akademischen Pfaden der Mediävistik und auch aus dem Lehrerberuf schon entsprungen, hatte eine Buchhändlerlehre absolviert und von diesem Hauptberuf aus begonnen, nebenbei Bücher zu verlegen.
Es hat mehr als 15 Jahre gedauert, bis die Verlegerei der Hauptberuf werden konnte. In dieser Zeit haben wenigstens zwei beeindruckende Themenkreise universitären Lernens auf meine Interessen eingewirkt: Mittelalterliche Lebensformen, wie sie Arno Borst angegangen war, und Heinrich Heine, ja überhaupt Humor als dichterische Einbildungskraft, wie sie von Wolfgang Preisendanz vermittelt wurden. Noch für die Einschätzung des Scheffelschen »Ekkehard« konnte ich beide Sichtweisen brauchen.
Bücher macht man immer auch in der Konkurrenz eines bestehenden kapitalistischen Marktes. Ich hatte eigentlich das Glück, dass es auf der deutschen Seite des Bodensees nur zwei Verlage gab, die regionale Bücher machten. Und da beide sich kulturgeschichtliche Bücher nur hin und wieder als schönen Schein neben lukrativen Hauptgeschäften zulegten, ohne Interesse an Zusammenhängen einer Traditionsbildung (Stadler in Konstanz neben seiner Geldmaschine des Adress- und Telefonbuchverlags und Gessler in Friedrichshafen als Appendix eines Verlags der Schwäbischen Zeitung), war das Gelände in aller Ruhe abzustecken. Die interessanteren Bücher waren ohnehin fernab vom See verlegt worden. Und es war doch, seit Scheffel als erster einen Roman aus der Geschichte dieser Gegend entwickelte hatte, Einiges zusammen gekommen.
Das schönste von den am Bodensee spielenden Erzählbüchern, Horst Wolfram Geisslers »Der liebe Augustin« war seit Jahrzehnten in fester Hand des Zürcher Sanssouci-Verlags; ein Abzweiger von Peter Schifferlis Arche Verlag, in dem Friedrich Dürrenmatt entdeckt worden war.
Von Jacob Picards literarischem Werk, das am westlichen Bodensee spielt und ein längst untergegangenen Landjudentum erinnert, wusste ich Anfang der 80er Jahre noch nicht. Seine Erzählungen konnten – die Radolfzeller SS-Männer hatten da schon den nahen Wangener Friedhof und das Grab von Picards Eltern geschändet - Ende der 30er-Jahre nur noch in einem Jüdischen Buchclub Berlins erscheinen und waren größtenteils eingestampft worden. Mitte der 60er Jahre wurde sein Werk in der Stuttgarter DVA wieder aufgelegt, nur wenige Jahre bevor der Autor, aus dem Exil in USA zurückgekehrt, in einem Konstanzer Altersheim starb; danach geriet es erneut in Vergessenheit.
Otto Frei, der vom Schweizer Ufer des Untersees her seine Jugendwelt der Kriegszeit beschreiben würde, hatte seine Bücher damals noch nicht veröffentlicht, sie erschienen – auf Dürrenmatts Vermittlung hin -ebenfalls im Arche Verlag. Die Werke beider Autoren, Picard wie Frei, sind erst viel später, in den 90er Jahren ins Programm der Libelle gezogen worden. Zwei hervorragende literarische Chronisten, beide auch jetzt zu wenig gelesen...
Ich begann also 1980 mit dem Buch der Lilly Braumann-Honsell »Kleine Welt – Große Welt. Frauen erleben eine Jahrhundert am Bodensee«. Das war erstmals Ende 30er Jahre erschienen, die Autorin hatte sich darin literarisch aus einer braunen, rabaukischen Gegenwart in ihr friedliches, weltbürgerlich gesonnenes Baden zurück geschrieben. Ein heil erinnertes 19. Jahrhundert. Die Oberbadische Verlagsanstalt hatte das Buch zwar in den 50er Jahren nochmals aufgelegt, aber als sie ihren Betrieb irgendwann eingestellte, verschwand damit auch das Buch der Braumann-Honsell aus der kollektiven Erinnerung. Nicht ganz, Margareta Söhnen-Meder, in deren Konstanzer Buchhandlung ich mit 30 eine Sortimenterlehre begann, hatte es nicht vergessen und mir eine Neuauflage geraten. Bei der Recherche über die Autorin, die unangepasster gelebt als geschrieben hatte, stieß ich auch auf Reste eines schrecklichen Hohentwiel-Dramas, das glücklicherweise nicht aufgeführt worden war, weniger Hommage an den Scheffelschen Stoff als eine Reminiszenz an die einstmals bekannten Hohentwiel-Spiele der Jahrhundertwende.
Aus diesem Erinnerungsbuch konnte man von einem anderen, viel länger schon zurückliegenden Roman erfahren, den Lilly Honsell in ihrer Konstanzer Kinderzeit von ihrer Großmutter vorgelesen bekommen hatte: Carl Spindlers bereits erwähnten Schwertberger-Roman um eine Konstanzer Handwerkerfamilie. Die bunte Handlung fängt unter anderem die ersten vorrevolutionären Lüftchen in der Biedermeier-Welt am See ein. Spindler hat sie 1844/45 drucken lassen, fernab in Stuttgart, wo der überaus erfolgreiche Autor mit fast hundert Bänden Gesamtwerk verlegt wurde, ein Simmel seiner Zeit. Dass der verkrachte Schauspieler, manisch schreibende und bis nach Paris renommierte Autor Spindler zwei Jahre im vormärzlichen Konstanz gelebt hatte, wusste am See inzwischen niemand mehr. Er war auch anderswo vergessen. Nur fernab in kulturell ambitionierten Literatur-Features der Radioanstalten wurde Spindler noch verhandelt, Arno Schmidt hat dort für seine Wiederentdeckung plädiert, vergeblich. Schmidt fand ihn unter anderem wegen seiner literarischen Versuche in Sachen eines deutschen historischen Romans belangvoll; tatsächlich ist Spindler mit seinen historischen Schinken - einer spielt zum Beispiel während des Konstanzer Konzils - noch in den Literaturgeschichten der Jahrhundertwende als der »deutsche Scott« klassifiziert worden.
Dieser Titel bewahrt die Erinnerung an eine sonderbare Literaturentwicklung in der Belletristik: Denn bis in die ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts hinein konnten die Deutschen, Schweizer und Österreicher nur historische Romane lesen, die in England oder Amerika geschrieben waren und in fremden Ländern spielten. Lieblingsautor war lange Zeit Walther Scott, mit vielen Dutzenden Bänden. Zu einer Zeit, da weiterblickende Deutsche wie Herder und Goethe den Begriff und das Ideal einer »Weltliteratur« formulierten, begannen sich kleinere deutsche Geister, von den Impulsen der Befreiungskriege gegen die napoleonische Besetzung in einem frischen Nationalgefühl gekräftigt, bereits sachte darüber aufzuregen, dass die Deutschen über das Leben im alten Schottland oder am Susquehanna durch die Romane der Ausländer Scott und Cooper besser Bescheid wüssten als über ihr eigenes Mittelalter.
Man kann die leichte Aversion und den gerechten Vorsatz zur eigenen Neuerung bei Wilhelm Hauff original nachlesen, in seiner Einleitung (1826) zu seinem Roman »Lichtenstein«.
Hauffs Roman lohnte überhaupt einen näheren Vergleich mit Scheffels »Ekkehard«, beide Mittelalter-Romane sind Gewaltsstreiche von begabten Mittzwanzigern, in wenigen Wochen herunter geschrieben. Scheffel hat den im Württemberg der Reformationszeit spielenden Lichtenstein-Roman gekannt, Hauff hatte ihn ja 25 Jahre vorher veröffentlicht, und dort in der Einleitung schrieb er vor allem gegen seinen Zeitgenossen Scott an: »Wir haben ja schon seit Jahrhunderten uns angewöhnt, unter fremdem Himmel zu suchen, was bei uns selbst blühte.... Doch auch wir hatten eine Vorzeit, die, reich an bürgerlichen Kämpfen, uns nicht weniger interessant dünkt als die Vorzeit der Schotten.«
Ich hätte Scheffels »Ekkehard« also in den frühen 80er Jahre gern gleich verlegt. Das war ziemlich blauäugig, ich wusste damals noch nicht, dass mir der (zugegeben: etwas zähfädige, kolportagenahe) Schwertberger-Roman für lange Jahre bleiern am Lager liegen würde - (viel, viel später hat mir ein schwäbischer Kollege am Telefon gesagt: »Dass Sie sellen Spindler wirtschaftlich überläbt hänt, des hät uns damals alle gwundert«). Der Scheffel hätte dazu gepasst, das spielte doch am See, in einem Mittelalter lange vor Spindlers Roman. Und Scheffel hatte auf eben jenem unbeackerten Feld des historischen Romans experimentiert, das durch Spindler und wenige andere noch nicht lange ausgemessen war. Sie hatten ihre Inspirationen aus Landschaft und mittelalterlicher Architektur nur ein gutes Dutzend Jahre zeitverschoben am gleichen See geholt, kannten sich auch in den Bodensee-Weinen vergleichbar gut aus...
Es hat damals nicht sollen sein: Im Verlag Fleischhauer & Spohn hatte man etwas früher mit der Neuauflage historischer Romane des süddeutschen Raums begonnen und den Markt besetzt. Scheffels Ekkehard und Hauffs Lichtenstein kamen dort ins selbe Programm. Eine parallele Ausgabe aber wäre chancenlos gewesen. Wie klein dieser Markt tatsächlich war, konkret: dass sich im weiteren Bodensee-Raum manchmal keine 500, meist aber keine tausend Leser für Stoffe des 19. Jahrhunderts interessierten, erfuhr ich schmerzlich in den Jahren danach mit einer Reihe, die »Alemannisches Libell« hieß. Deren inhaltliche Impulse kamen dann endlich aus der Konstanzer Literaturwissenschaft. Neu entdeckt wurden da ehrenwerte mittlere Talente, die eine gemäßigte Aufklärung zwischen Freiburg, Konstanz und Aarau in Gang gesetzt hatten, Ittner, Hansjakob, Zschokke, Wessenberg; die meisten gerieten trotz einer milden Unterstützung durch den Rektor der Konstanzer Universität, Horst Sund, zu schrecklichen verlegerischen Flops. Neben einer Sammlung mittelalterlicher Schwänke war das noch erfolgreichste Bändchen jener Reihe ein Scheffel-Lesebuch, das Klaus Oettinger und Helmut Weidhase 1986 zusammengestellt hatten: »Warum küssen sich die Menschen?« Scheffels Witz, seine naturhistorisch begründete Skepsis, seine Lust an poetischen Nonsens-Kombinationen, die erst viel später bei Morgenstern und Ringelnatz zu einem deutschen Traditionsstrang werden konnten, hatten wir in einigen kleinen Stücken also seither im Programm.

Aber Verlagsprogramme verändern sich, und wenn das Libelle-Programm besser werden und überhaupt wachsen sollte, musste es strenger entwickelt werden. (Man muss auch alle paar Jahre die eigenen, liebgewordenen Ideen überprüfen; manchmal haben sie sich überlebt. Das »Alemannische Libell« zum Beispiel musste aufgegeben werden.)
Anfang der 90er Jahre sah dieses Mosaik aus Büchern bereits anders aus: der wirtschaftlich erfolgreichste Bereich der Libelle wurde von Büchern zur Grundschuldidaktik gebildet. In den Universitätsstädten war vor allem die naturwissenschaftlichen Essays und Wissenschaftssatiren bekannt. An zeitgenössische Belletristik und Theater, die um die Jahrtausendwende unsere Schwerpunkte geworden sind, dachten wir überhaupt noch nicht. Literatur und Kulturgeschichte des Bodenseeraums waren als Programmteil geschrumpft, wurden aber weitergeführt, wenn die Texte dem schlichten Kriterium genügten: Kann das auch weiter weg vom See interessieren? Hat es das innere Format, um diese Landschaft in ihren europäischen Bezügen zu zeigen? So kamen in den Jahren mit Arno Borsts »Ritte über den Bodensee« ein Buch über ein Jahrtausend europäisches Mittelalter ins Programm, mit Manfred Boschs »Bohème am Bodensee« wurden erstmals die Literatur-Wechselbeziehungen der Region bis in die Kulturmetropolen München und Berlin sichtbar gemacht. Und die Mongolei-Bücher von Fritz Mühlenweg nehmen wir flott mit in diesem Zusammenhang hinein, weil der Autor seine Fantasien entwickelte, während er jahrzehntelang stabil am See wohnte. In den so entwickelten Kontext passt nun freilich der Hohentwiel-Roman mit seinen gediegenen Ingredientien eines humorvoll moderierten und kritisch beleuchteten christlichen Abendlandes.
Anfang 2000 erfuhr ich, dass Scheffels »Ekkehard« vom Buchmarkt verschwunden war. Vergriffen, keine Neuauflage. Ich hatte, wie schon zugegeben, den Roman nicht wieder gelesen seit jener Schmökerzeit des Elfjährigen. Immer wieder waren mir aber, quer durch die Jahre, erstaunliche Wertschätzungen durch ganz unterschiedliche Superreader aufgefallen: Das fing an mit einem nie so richtig bekannt gewordenen Lobpreis von Theodor Fontane an, der sich 1871 notiert hatte: »&Mac221;Ekkehard&Mac220;zählt zu den besten Büchern, die ich gelesen habe«. Und ging, als der Jahrzehnte andauernde Bestsellererfolg des Romans schon lang vorbei war, z. B. auch in einer Zeitschrift weiter, von der die Empfehlung einer bloß harmlosen süddeutschen Heimatliteratur nicht zu erwarten war, in der linksrepublikanischen »Weltbühne« nämlich, die Ossietzky und Tucholsky in der Hauptstadt der Weimarer Republik machten. Dort war die kulturperspektivische Position der Praxedis, ihre Rückweisung des sturen deutschen Wesens, den deutschtümelnden Nazis des Jahres 1923 zur Lektüre anempfohlen worden.
Auch bei Historikern wurde das Buch mit Respekt behandelt: Der Mediävist Arno Borst gab in seinem Werk über die »Mönche am Bodensee« mit einem langen Zitat aus der St. Galler-Klosterszene zu erkennen, dass Scheffels erzählerischen Darstellung des mittelalterlichen Alltagslebens von bleibendem Wert geblieben waren.
Es konnte also losgehen mit der Libelle-Ausgabe. Die Ambition dabei war, der Bodensee-Region ihren einzigen historischen Mittelalter-Roman in einer schönen Ausgabe wieder zu geben und zugleich diesen einst bis Norddeutschland hoch geschätzten Schmöker wieder für einen weiteren Horizont interessant zu machen. Und zwar in der besten Textform, also auch mit dem geballten Bildungsstoff, den der Autor im Anhang verpackt hat.
Es gibt nach solchen Vorsätzen immer auch die guten Zufälle beim Büchermachen. In einem Telefongespräch mit dem Antiquar und Galeristen Horst Brandstätter aus Öhningen erfuhr ich, dass dieser Scheffel-Begeisterte einige Wochen zuvor den Berliner Künstler Johannes Grützke für den Ekkehard-Roman interessiert hatte und diese Idee nun auch mit dem Libelle-Projekt zusammen sehen konnte. Ein guter Zufall hatte mich zwei Jahre zuvor mit diesem Johannes Grützke zusammengeführt, in einem fast leeren Eisenbahnabteil zwischen Straßburg und Offenburg gerieten wir unversehens in einen heiteren, raschen Austausch über gemeinsam geschätzte Bücher und Autoren: dieser Maler, der u. a. durch seine Wandbilder in der Frankurter Paulskirche bekannter wurde, ist nämlich nebenbei ein weit belesener Mensch. Seit der Zugfahrt waren wir sporadisch in Kontakt geblieben. Das Fax mit Grützkes Zusage datiert vom 20. März. Am 29. April 2000 kam wieder ein Fax, dass 104 Zeichnungen fertig seien, die während seiner launischen Scheffel-Lektüre entstanden waren. Sie können im Impressum unserer Ausgabe nachlesen, wie sich für Grützke selbst während der Lektüre das Vorhaben vergrößert hat.
Durch Grützkes Mitwirken hatte der Roman eine Dimension neu hinzu bekommen, der bildnerische Autor sollte zusätzliche Aufmerksamkeit schaffen. Für den Markt braucht es solche Phantasien für differenzierte Zielgruppen. Tatsächlich hat diese Konstellation von Scheffel und Grützke so vielversprechend gewirkt, dass gegen Ende der Herstellung die frohe Botschaft von der Literarischen Gesellschaft Karlsruhe/Scheffel-Bund kam, dass unsere Ausgabe als Scheffelpreis des Jahrs 2001 an über 600 Gymnasien gehen würde. (Sie werden sich wundern, die Abiturienten. Und sie sollten’s besser machen als ich mit meinem Scheffel-Preis des Jahrs 1966: Dantes »Göttliche Komödie« steht hier immer noch ungelesen.)
Was aber vor den Niederungen der Herstellung kam, war die Freude über diese Zeichnungen, in denen Grützke souverän die Hauptfigur mit einer Ähnlichkeit ausgestattet hatte, die näher beim Romanautor als beim hübschen blonden Mönch seiner literarischen Phantasie liegt. Vor allem setzt er mit sparsamem, dynamischem Strich Scheffels ungewöhnlich starken Blick für die Machtbeziehungen zwischen Menschen immer wieder überraschend ins Bild. Ein Aspekt, den Hansgeorg Schmidt-Bergmann in seinem Nachwort seinerseits unter der Thematik von Sprachlosigkeit und Körpersprache der Scheffelschen Figuren beleuchtet.
Was auch kam, war die Einsicht, dass die Druckfassungen der letzten Jahrzehnte in erstaunlichem Maß verludert worden waren, es fehlten Worte, ganze Halbsätze, es gab viele Verschreibungen und die fast 300 Anmerkungen, in denen Scheffel die lateinischen Quellen seiner Inspiration zitiert hatte, waren durch Abschreiber ohne Lateinkenntnisse nicht gerade optimiert worden; insgesamt waren viele hundert Korrekturen fällig.
Vor allem kamen für mich, während meine Frau Text und Bildern in ein großzügiges Layout ihrer Buchgestaltung brachte, in den folgenden Korrekturphasen des 520 Seiten Opus, wenigstens drei genaue Lektüren des Romans. Und daraus wurden drei neue Bekanntschaften mit wachsendem Vergnügen. Wobei nicht verschwiegen werden soll, dass Scheffels künstlich altertümelnder Tonfall es heutigen Lesern anfangs nicht so einfach macht. Man kann das, wie es Manfred Fuhrmann im ersten Heft der Allmende 1981 getan hat, mit schlenkerndem Zeigefinger als »butzenscheibelnden Stil« tadeln, man kann es aber auch wie Peter Härtling im Jahr 2000 (Brief an den Verleger) einfach als »Scheffelsound« erinnern oder wie Thomas Köster ein »herrlich altertümendes Prosaepos« (Süddeutsche Zeitung 6. 12. 2000) nennen. Hier entscheidet sich wohl, ob sich der Leser eine Variabilität und spielerische Großzügigkeit erlaubt oder ob er sich auf eine argwöhnische Stilkritik einschießt. In unseren Zeiten, da uns übers Zappen durch unterschiedliche und rasch wechselnde Sprachcodes der neuen Medien ein großzügigeres Rezeptionsverhalten zugewachsen ist, kann man bei gutwilliger, nicht schon vorab dünkelhafter Lektüre diese Scheffelsche Ventilation leicht gestelzter Worte nach einigen Seiten langsam wegblenden. Es lohnt sich; denn diesem Autor Scheffel ist ja viel mehr in seinen Text geflossen, als die bisherige Festlegung auf einen doch irgendwie trivialitätenverdächtigen Roman aus dem Alemannenland gemeint hat.
Ich will das nur an wenigen Beispielen zeigen.

Man kann den Anfang dieses Romans schon mit dem ersten Kapitel von Hauffs »Lichtenstein« vergleichen und staunen, welche eigenständigen und unerwarteten Frauengestalten bei Scheffel ihre selbst bestimmte Handlung vorwärtstreiben, wo bei Hauff die jungen Frauen nur brave Stichwortgeber für die Beleuchtung eines Zugs aus kriegerischen Männergestalten sein dürfen.
Man könnte überhaupt diesen Scheffelschen Frauen nachgehen, die eigentlich stärkere Eindrücke hinterlassen als seine Männer. Es lässt sich vermuten, dass die so ganz andere biografische Situation der beiden Autoren gerade diesen Unterschied mitbewirkt hat: Hauff war, als er seinen Roman schrieb, glücklich verliebt und bürgerlich verheiratet und von daher einer konventionellen Idyllik im wirklichen Leben nah, mit sehr konventionellen Geschlechtsrollen seiner Zeit: der Dichter liest und schreibt, die Frau stopft Socken. Scheffel schrieb sich mit seinem Roman das Liebesleid nach der Zurückweisung durch eine geliebte Frau von der Seele: das Drama eines Mannes, der zulange zögert und dann mit seiner Leidenschaft zu spät kommt, hat er selbst erlebt, bevor er es seinem Mönch im Mittelalter andichtete. Seine Unglücksfantasie verhalf diesem Sohn einer beherrschenden Mutter zur Erfindung starker, kapriziöser, immer aber eigenständiger Frauen, die gerade auch gegen die Erwartung der Männerwelt handeln. Seine Frauen bleiben noch dem Vorgelesenen gegenüber kritisch.
Es sind mit diese Frauen, die das Buch ganz anders lebendig halten können als Hauffs »Lichtenstein« und die Untersuchung ihrer Typologie könnte für den ganzen Roman erhellend wirken: Die eigenwillige, launische, machtbewusste Politikerin Hadwig, die ein riskantes erotisches Phantasiespiel mit dem Mönch anzettelt. Praxedis, die eine leichtere fremdländische Grazie und Kultur verkörpert, listig und kühn handelnd aus einer schwesterlichen Fürsorglichkeit heraus, nicht ohne Lust am Flirten, aber unversucht den tumben Männern ihrer Umgebung gegenüber. Die Waldfrau, eine fürs 19. Jahrhundert interessante Variante des Typs der femme fatale, mit ihren nächtlichen Blutriten für heidnisch gebliebene Männer, die Verwalterin eines naturhaften und religiösen Wissens, das von den machtbesessenen Christen ausgerottet wird. Dann der reine Vamp Erica, die Heideblume im Hunnentross. Und schließlich die naive, tatkräftige Hadumoth, die Audifax so unverzagt ins Hunnenlager folgt, wie die Märchen-Gretel einst ihrem Hänsel half, und die Sennentochter, die dann nach dem einsamen Dichter schaut.
Wir haben dieser Bedeutung der Frauenfiguren bei Scheffel mit zwei akzentuierenden Frauenreden noch vor der Titelei und mit dem Umschlagbild Rechnung getragen: Es stammt aus einer der illustrierten Bibeln der Bodenseegegend, der Toggenburg-Bibel des frühen 15. Jahrhunderts und zeigt das brennende Sodom mit der zurückblickenden Frau Lot. Für Interessierte, die mit dem Roman noch nichts verbinden, soll er so als gewichtiger Mittelalter-Schmöker auftreten, auf einem Markt, der Ecos Name der Rose, Follets Säulen der Erde und Gordons Medicus kennt. Nicht zu viel Vorschuss für einen Roman, der überaus geschickt konzipiert in jedem Kapitel neue, spannende Action inszeniert.
Für Leserinnen, die das Buch schon mögen, könnte das Bild meinen: Der Blick der Waldfrau, auf ihre Steinhütte, aus der sie vertrieben wurde und die sie selbst dann niedergebrannt hat, um ein ideologisches Männerspiel zu verhindern; oder der Blick der Recluse Wiborad aufs brennende Kloster St. Gallen unterm Ungarneinfall; oder Hadwigs Blick auf jenes innere Feuer, das sie selbst entflammt hat und nicht mehr löschen konnte.
Der Roman ist auch in einer zweiten Schicht lebendig geblieben, weil der Autor noch eine andere autobiografische Dramatik verarbeitet hat: Scheffel hatte sich ja eigentlich an die Forschungsarbeiten einer Habilitation fürs Fach Rechtsgeschichte gemacht, um nach väterlichem Wunsch eine Universitätslaufbahn zu beginnen. Er wusste da schon, dass er in den juristischen Staatsdienst nicht zurück wollte, hatte andererseits auch die Hoffnung auf eine Existenz als Maler bereits aufgegeben. Bei den Quellenstudien über den Unterschied von altem alemannischem Recht und dem neuen römischen Recht des Mittelalters stieß er in St. Gallen auf so lebendige Geschichten und faits divers des mittelalterlichen Alltags, dass er sich hinsetzte und statt der gelehrten Abhandlung seinen Roman schrieb. Ein Jurist also, der sich in die Laufbahn eines freien Autors schreibt, so wie sich der Mönch Ekkehard durch die Niederschrift des Waltarilieds in einen weltlichen Dichter verwandelt, nachdem er sich durch Wirrnisse seiner Leidenschaft und die Lehren der Frauen schon vom fanatischen christlichen Ideologen ("sein blödes, schwerfällig gründliches Wesen", so der Autor im 23. Kapitel über seine Hauptfigur nach der Krisis im Bergsee) zum Klosterflüchtling geläutert hat.
Dieser historisch gebildete Jurist hat aber mit sicherem Blick einen weitgefassteren Horizont angepeilt als sein Vorgänger Hauff. Denn Hauff hat mit der Wahl eines Konflikts der Reformationszeit, zwischen Schwäbischem Bund und dem württembergischem Herzog ein kleinstaatliches Gehäuse für seine Handlung festgelegt. Und dass er jedes Kapitel mit einem Motto überschreibt, in dem nur reinrassige württembergische Dichter und Denker zu Wort kommen, ist nur ein weiteres Indiz für den selbst beschränkten historischen Horizont. Scheffel hingegen hat mit seinem Stoff der Jahrtausendwende eine Bodenseelandschaft gewählt, die vor der (heute noch grotesken) Aufteilung durch kleinstaatliche Grenzen offen war für Einfälle von weit her.
Bei ihm wirkte die undeutliche Sehnsucht des enttäuschten Zuschauers der 48er-Revolution nach, die nach einem geeinten Deutschland ausgreift.
Grob skizziert: Dass er sich mit dem Alten in der Heidenhöhle nur gerade eine Kyffhäuerphantasie geleistet hat, darf man getrost als politisch reaktionär klassifizieren. Er hätte, zum Beispiel, von der nur wenige Jahre älteren Emma Herwegh ("Im Interesse der Wahrheit") schon damals eine europäische Option radikal demokratischen Denkens erfahren können.
Gegen andere politisierende Vorwürfe soll man ihn in Schutz nehmen: Aus den uns inzwischen befremdlich klingenden »Deutschtümeleien« an einigen Stellen des Romans diesem Scheffel gleich eine Wegbereitung für völkische Perversionen des 20. Jahrhunderts zuzuweisen, das ist etwa so hurtig und schlicht gedacht wie die Disqualifizierung Nietzsches wegen seines späteren Missbrauchs durch NS-Interpreten. Die Betonung des »Deutschen« in den 50er Jahren des 19. Jahrhunderts und aus einer im Vergleich zu Franzosen und Engländern »verspäteten Nation« heraus, war etwa so fortschrittlich wie heutzutage ein Bekenntnis zum »Europäischen".
Scheffel hat mit seiner Epochenwahl zugleich an ein abendländischeres, lateinisches Mittelalter angeknüpft, die Mönche seines Romans waren u. a. mit der Pflege einer römisch geprägten Kultur beschäftigt; nicht zufällig findet sich, darauf hat Hansgeorg Schmidt-Bergmann hingewiesen, die erste Erwähnung seines St. Gallen-Hohentwiel-Stoffs bereits 1852 im Tagebuch einer langen Italienreise. Einer gutwillig neuen Lesart wird nicht nur seine fundierte, aber unernst dargebotene Rezeption der Antike auffallen. Scheffel hat das 120 Jahre vor der Erfindung des Planeten Asterix literarisch inszeniert, irgendwie leise swingend nach der Melodie »allways walk on the bright side of life", und das kann immer mal wieder ein Ärgernis für wohlbestallte Männer werden, die ihre Lebensstellungen mit der pathetischen Variante von Klassik-Recycling ausgefüttert haben.
Unsere neue Lesart kann auch, den für Scheffels Zeit ziemlich kühnen, mehr-als-antiklerikalen Stoff der Waldfrau-Szene in ein angemessenes Licht rücken: Da wird die ideologische Festschreibung einer immer positiv gesehenen Christianisierung Europas in den Worten einer Frau und aus der Perspektive eines politisch vernichteten Volks als das gezeigt, was sie mindestens auch war: eine Unheilsgeschichte auf einem Vehikel aus fanatisierter, männerbündischer Machtpolitik. Noch in dem schrillen Verriss des Autors Scheffels (»Drittklassiker«) und dann seines Romans (»Romanleiche«), den sich der Literaturwissenschaftler Peter von Matt im Oktober 2000 gegönnt hat und der, weil er in der FAZ stand, von manchen statt einer unbefangen Neulektüre nachgeplappert wurde, kann fröhlich beobachtet werden, wie eine Verletzung der christlich-abendländischen Universitätswerte geahndet wird: von Matt wirft Scheffel unter anderem vor, er habe »von der monastischen Spiritualität nichts begriffen". Der Vorwurf lässt nicht nur von Matts eigenes romantisches Mittelalterbild oder eine konfessionell-katholische Position erkennen, der Kritiker hätte mit gleicher Berechtigung bei Scheffel auch mangelndes Verständnis für bäuerlichen Schadenzauber monieren können. Wie von Matt dazu kommt, dann auch noch das Scheitern der Liebesgeschichte zwischen Mönch und Herzogin als »frauenfeindlich« zu klassifizieren, wird sein Geheimnis bleiben.
Joseph Victor Scheffel konnte sich beim Schreiben eines späteren Erfolgs nicht gewiss sein. Wie er seine eigenen Vorlieben selbstkritisch und lernfähig anschaut, kann aus der köstlichen Erfindung im Schlussteil des Buchs entziffert werden: dort nämlich, wo auf der Alm beim Wildkirchli die erste Zuhörerin der frisch abgeschlossenen Waltari-Dichtung dem stolzen Poeten durch ein eindeutiges Rezeptionsverhalten Bescheid gibt: Die Bärin nämlich (sie ist deutlich eine Hadwig rediviva, eine Witwe wie die Herzogin und auch sonst ihr in Emotionalität und abruptem Verhalten ähnlich), bricht ihr lange Zeit geduldiges Zuhören schließlich gelangweilt ab und geht von dannen. Man kann’s ihr nicht verdenken, und wir haben diese dumpfe germanische Kriegerphantasie in vielen Versen, weil man sie nicht unbedingt lesen muss, im Buch auch platzsparend kleiner gedruckt.


Anmerkung: Die erste Fassung dieses Texts entstand für einen Vortrag, den der Verleger im Rahmen der Veranstaltungsreihe »im Garten der Erinnerung« an der Singener Landesgartenschau gehalten hat. Für die von Manfred Bosch herausgegebene Zeitschrift Allmende (Nr.68/69) stark überarbeitet und erweitert im November 2000, erschienen 2001.