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Das Land des blauen Himmels: Fritz Mühlenweg und die Mongolei

Ekkehard Faude anlässlich der Eröffnung der Ausstellung »Das Land des blauen Himmels. Fritz Mühlenweg und die Mongolei«
Vernissage 10. März 2005, Kulturzentrum am Münster, Konstanz

Meine Damen und Herren,
herzlich willkommen in Mühlenwegs Konstanz: Für die Dauer einiger Sätze dürfen wir so tun, als sei es noch die gleiche Stadt. Sein Elternhaus, die Drogerie Kornbeck in der Kanzleistraße, steht noch. Wo seine Jugendfreundin Pierina in der Zollernstraße wohnte, ließe sich noch anschauen. Die Oberrealschule, von der er 1914 freiwillig abging, um seine Drogistenlehre im fernen Bielefeld zu beginnen, steht überm gleichen knochengesättigten Erdreich des früheren Schottenfriedhofs. Der Bahnhof sieht fast noch so aus wie damals, als er zu seinen Skitouren losfuhr, Silvesternacht mit dem Sportsfreund von Dewall beim Bergwart auf dem Säntis, als noch keine Bergbahn den Aufstieg erleichterte. Wo er am Schänzle mit schwerem Bissschutz die Hunde der Familie dressierte, kann man sich unterm Beton noch die Wiese vorstellen. Sogar sein Ruderclub, dessen Vereinsnachrichten er sich auch in die Gobi nachschicken ließ, heißt noch »Neptun«…
Eine schöne Illusion, dieses Mühlenweg-Konstanz von heute aus. Und welch ein spannendes Experiment kann nun mit dieser Ausstellung beginnen, wenn die Studierenden der Fachhochschule einen ganz anderen Mühlenweg-Stoff, den der Mongolei, ins Bildgedächtnis der heutigen Stadt einfügen. Es braucht noch einiges, bis dieser Autor vom See, der uns eine Welt zurückbrachte, die Präsenz hat, die er verdient.

Es gibt diese irrationalen Momente. Als ich vor einigen Wochen leichtsinnig zusagte, heute Abend diese Rede zu halten, damit Ihre Vorfreude auf die Ausstellung sich so richtig entwickeln kann…
…da fiel mich ein Thema buchstäblich an: „Fritz Mühlenwegs Erfindung der Mongolei“. Darüber hätte ich lange schon gern selbst mehr gewusst. Endlich einmal zusammen zu bringen, was über Jahre hinweg aus dem Material an die Ränder der Aufmerksamkeit angschwemmt wurde und gleich wieder abtauchte…
Und so steht es nun eigentlich im Programm. Es ist aber, offen gestanden, schlicht zu groß für einen Abend. Hören Sie die kleine Stimme aus dem Off?: „Es gibt keine Hilfe“.
Nichts ist jedoch leichter, als sich von einem Thema zu entfernen, das zu schwer erscheint. Man macht das auf möglichst unmongolisch Art, also nicht mit dunkler Rede, sondern so wortreich, so dass es keiner mehr merkt. Ich höre eine andere Stimme aus dem Off, vom Edsingol her: »Keine Besorgnis deswegen.«

Fritz Mühlenwegs Erfindung der Mongolei: die etwas reißerische Behauptung steuert gegen zwei ganz unterschiedliche Affekte an. Ich wundere mich seit Jahren darüber, wie viele Reisende, wissenschaftliche wie touristische, von dort zurückkommen und sagen: Ja, es ist genau so wie Mühlenweg es beschrieben hat. Ich selbst war nie in der Mongolei. Man muss das dann einfach glauben und wird doch hellhörig. Denn fast 80 Jahre sind seit seinen Reisen vergangen. Und auch Wüsten verändern sich.
Und dann gibt es, wenn man lange einem Menschen biografisch nachsteigt, eine Krise der Über-Genauigkeit, in der einem über den tausend gefundenen Einzelheiten das Ganze immer rätselhafter wird. Irgendwann spitzt sich die Frage zu: bis wohin reicht das dokumentarisch Belegbare und wo fängt sein Selbstentwurf an und seine Erfindung ins Literarische. Wann beginnt - viel gefährlicher noch - der Biograph seine Figur so gut zu verstehen, dass die sich gar nicht mehr gegen ihn wehren kann? Mich von dieser Krise abzulenken mit einem Nachdenken darüber, wie der Autor fiktionalisiert hat, was so authentisch wirkt, ist schlicht entlastend.

Die Mongolei-Reisenden also, die von Mühlenweg begeistert sind: Sie beweisen letztlich, dass er mit großem typologischem Gespür, mit dem Auge eines geübten Malers, die Natur und Landschaft in seine Texte eingefangen hat. So kann wiedergefunden werden, mit dem unscharfen Blick einer Sehnsucht, was als innere Bilder aus einem großen Leseerlebniss überdauert hat.

Zum Beispiel: Joschka Fischer. In Samarkand einem TV-Reporter auf die Frage antwortend, wie er das Land hier denn sehe - zitiert ohne den Namen zu nennen: Mühlenweg: Das sei genau so, wie er es in »Null Uhr fünf in Urumtschi« gelesen habe.
Ulrike Ottinger, die als Jugendliche Mühlenweg noch selber kennen lernte und so sehnsüchtig nach seiner Mongolei wurde, dass sie sich irgendwann viel später ihren Wunsch erfüllte, dort Filme drehte.
Es gibt Reisende, die sind vom Wiedererkennen so fasziniert, dass sie sogar am inzwischen ausgetrockneten Edsingol eigentlich immer noch jene prachtvoll gefärbten Enten schwimmen sehen, die einst Siebenstern gezeigt hat.
Vor zwei Wochen haben wir von einer fremden Leserin ein wunderschön gestaltetes Fotoalbum zugeschickt bekommen. Sie war lange beruflich in der Mongolei gewesen, hatte jetzt den Autor Mühlenweg über unsere Erzählung »Der Christbaum von Hami« entdeckt. Und machte nun eine Collage aus ihren neuen Fotos und eigentümlich stimmigen Textpassagen aus Mühlenwegs Roman, der gerade 55 Jahre alt ist.
Das Album zeigt: Abendlicht auf den Sandwällen vor der zerstörten Stadt Charachoto. Ein Brunnen, mit einem Zugseil, das im Schacht verschwindet. Die Bodenwellen der Kieswüste. Tote, ausgebleichte Bäume im Sand, Tamarisken. Es bleibt faszinierend, wie viele Menschen dieser Autor immer noch bewegen kann.
Viele wünschen sich auch, dass wir dem Roman eine Landkarte beigeben, wie sie die Jugendbuchausgabe einmal hatte. Es ist, als ob sie sich wünschten: diese Geschichte um die geheime Mission in der Wüste Gobi sei wirklich passiert, in der realen Landschaft, der man mit dem Finger nachgehen kann. Der Autor hat ja auch tatsächlich einige Stationen jenen Haltepunkten nachgebildet, die er den knappen Notizen seiner Expeditionstagebücher entnahm. Irgendwann machen wir das, aber dann müsste es eher eine Karte werden, wie jene zum Auenland, zu Düsterweg oder Gondor in Tolkiens Herr der Ringe. Mühlenwegs magisch gestaltete Mongolei, bei aller Reverenz an geographische Benennungen, ist ein Reich für sich, wie auch seine Personen, denen er teilweise Namen aus dem Umfeld der Expedition gab, Figuren seiner dichterischen Einbildungskraft sind. Der Abstand zwischen der realen Mongolei und jenem Gobiland, das er in den späten Vierzigerjahren erzählend verdichtete, lässt sich bis in die Sprachebene verfolgen. Wer den anmutigen Briefwechsel zwischen Mühlenweg und der jungen, scharfsinnigen Nelly Dix liest, findet dort einen humorvoll gravitätischen Binnentalk entwickelt, der manche Tonlage des Romans vorweg nimmt.

Natürlich hat Mühlenweg die Mongolei nicht erfunden. Sie war vor ihm da, eine relativ große Weltgegend, an deren Ränder Bürgerkriege flackerten. Die Mongolei hat nicht auf ihn gewartet. So wenig, wie er sie von sich aus ansteuerte: Dieser 28-Jährige wollte damals nur eins: weg aus Konstanz und einer Lebensform als Kaufmann im Drogistengewerbe. Das allein kann ihn schon interessant machen. Mühlenwegs Konstanz war eine dumpfe, bigotte und militärisch eingefärbte Stadt. 200 Meter von seinem Elternhaus entfernt, auf der Marktstätte, wurde alljährlich der Sedan-Tag begangen, stolzgeschwellte Erinnerung an die Niederkämpfung eines Nachbarlands. Mühlenweg als Ausreißer: Es sind die Söhne, die weggehen und die erst einmal als verloren gelten müssen, die der Identität eines Gemeinwesens ideologische Verkrustungen aufbrechen können.
Als er Maler war, schon in der Zeit seiner Freundschaft mit Otto Dix, in Allensbach wohnend für den Rest seines Lebens, hat er die Stadt einmal in Brand gesetzt, auf einem Bild um Lot und seine Töchter, und in diesem brennenden Konstanz-Sodom geht auch der hohe Giebel seines Elternhauses in Flammen auf.
Er war weder Maler, noch Schriftsteller, er war ein Drogist, der weg wollte, als er im Spätsommer 1926 seiner Mutter beschönigend schrieb: „Gehe ich aber jetzt ein bissel hinaus und sei es auch nur für 2 Jahre, so komme ich als ein Anderer zurück und finde etwas, was mir mehr Befriedigung gibt.“ In jenen Wochen sollte sich entscheiden, ob er über einen Job bei der Luft Hansa nach Asien entkommen könnte. Seiner Jugendgeliebten Pierina, vor der er insgeheim auch floh, gab er eine viel tiefer gehende Abkehr zu, er tat es in geziertem Pathos:
»In wenigen Wochen wird sich mein Geschick vollenden wollen, ich setze ja alles daran hinaus und ins große Weltgeschehen hinein schauen zu dürfen. (…) Als ich gestern Nacht in Stuttgart meine Pläne und Hoffnungen erneut zerstört sah, wäre ich bald ein Konstanzer geworden, jetzt glaub ich, werde ich keiner mehr.«
Er wurde dann keiner mehr. »Konstanz« war ihm zur Metapher des Verhockten und Abgefragten geworden. Die Stadt war für diesen Juniorchef nach dem Tod seines Vaters mit einer Existenzform verbunden, die ihm als Drohung erschien, ein Lebenslänglich im elterlichen Drogistenhandel. Der Alltag des Kaufmanns, den er seit seiner Lehre durchgestanden hatte, war ihm eine unschöpferische Welt aus tagtäglichem Abwiegen und Entgelt geworden: »das eine fertige Sache mit der linken Hand nehmen und mit der rechten Hand weitergeben und dafür Geld verlangen« wird er 1932 abschätzig schreiben. Er litt unter einer Entfremdung von seinem „lebendigen Ich“, das ist seine eigene Formulierung, und der bürgerliche Kapitalismus kam ihm zum Davonlaufen vor.

Man darf ihn, wenn man Werbetexte schreibt, auch mal einen Forschungsreisenden nennen. Das macht sich gut auf einem umkämpften Buchmarkt, Fritz Mühlenweg bewegt sich dann in einer Sphäre zwischen Alexander von Humboldt, Sven Hedin und Tor Heyerdal. Aber eigentlich lässt man, mongolisch gesprochen, damit eine Lüge los und muss hoffen, dass die andern ihr Herz weit machen. Denn unter einem genaueren Blick war er, als er zur Hedin-Expedition kam, erst mal jener ziellose Ausreißer. Und dann in der Mannschaft, in der ja veritable Forschungsreisende dabei waren, der Geologe Erik Norin, der Archäologe Folke Bergman, der Mediziner David Hummel, alle mit präzisen Vorhaben, da war dieser junge Mann vom Bodensee für kaufmännische Logistik und Lohnzahlung zuständig und hatte auch schon seinen Malkasten dabei.


Als diese erste Expeditionsfahrt 1928 abrupt endete, weil die Luft Hansa auf Sparkurs ging, und Mühlenweg danach mit eng befristeten Zeitjobs oder auch vom ersparten Vatererbe in Berlin lebte: Da wäre er in jenen Endzwanzigerjahren, seinen eigenen und denen der Weimarer Republik, in welche Weltgegend auch immer ausgewandert. Träumte sich in unbekannte Länder und versuchte Einwanderungspapiere zu bekommen. Nach Südafrika, in die USA, nach Australien. Er halluzinierte sich Landwirtschaft treibend in Neuseeland: für dort hatte er dann 1930 tatsächlich die offizielle Erlaubnis. Zum Glück bot ihm die Luft Hansa auf einmal wieder Arbeit in Fernost an und so kam er ein drittes Mal in die Gobi, für fünf Vierteljahre. In dieser längsten Mongoleizeit amtete er, eher unwillig, als Quartiermeister, Personalchef und Handlanger eines Wetterforschers. Viel lieber malte er. Er erforschte damals nicht die Mongolei, sondern sich selbst und seine Begabung zur Malerei. Und er hatte das Glück, an einem Wintermorgen allein auf dem Berg Yaga das Gelingen eines Bildes so zu erleben, dass er sich endlich zum Künstler berufen glaubte. Nur die politischen Wirren des Jahres 1932 haben ihn daran gehindert, als freier Maler erst einmal in China zu bleiben.
Dennoch hat er wohl in jenem letzten Aufenthalt, mit seinem wachen Blick und aus Gesprächen mit mongolischen Kameltreibern den Fundus angelegt, aus dem er fast zwei Jahrzehnte später seine Mongolei erschaffen konnte. Und vielleicht war es sogar das Leiden unter seinem übergenauen Chef, das ihn für die so ganz andere Welterfahrung der Mongolen noch empfänglicher machte. Dieser deutsche Meteorologe Waldemar Haude war von nervtötendem Exaktheitsdrang. Die beiden kamen nicht gut mit einander aus. Über Monate hinweg hatte Mühlenweg in seinem Auftrag alle 4 Stunden Wind und Temperaturen messen müssen. Die Mongolei, die er nicht erfinden musste, sah für ihn so aus: Mühlenweg, mit langem, zottigem Haar und Vollbart, immer wieder verlaust, aus dem Zelt stolpernd und bei minus 18 Grad auf Messgeräte starrend. Das war auf die Dauer so öde, dass er eine Flucht erwog, und es kam ihm so irre vor, dass er noch Jahre später diesen Wissenschaftler in den Kalendermann verwandelte, von dem die kleine Nuni zum Schluss eine Visitenkarte erhält, auf der mit einiger Selbsterkenntnis geschrieben steht: „Es geht auch ohne mich“.
Er wusste, dass er gegen einen Teil seiner selbst ankämpfen musste, als er seine Mongolei literarisch erfand. Der Fritz Mühlenweg, der auf die naturwissenschaftlich-technische Weise der Genauigkeit hin beruflich sozialisiert war, auf die Einhaltung von Mischverhältnissen und Sicherheitsvorschriften, Absolvent der Drogisten-Akademie. Der Mann, der einer Geliebten minutiös die Bahnverbindungen und Umsteigeorte aufschrieb zu einem Weekend, ein Didaktiker der Genauigkeit.
Er hat überhaupt das Fahrplanwesen der Bahn geschätzt und sich von den chaotischeren Autos lebenslang ferngehalten. („Der Selbstgehewagen ist eine brennende Schande“, lässt er den Soldaten Glück sagen.)
Dieser Mühlenweg brachte eine Mongolei heim, in der die abendländische Linearität der Zeit und die beginnende Wichtelei der Medien-Beschleunigung von einer schlichten Gegenfrage überm Lagerfeuer abserviert wird. Das fasst er in eine Erzählung mit dem Titelspruch, der unter den Mühlenwegianern schon dreißig Jahre vor Sten Nadolnys »Entdeckung der Langsamkeit« zu einem Codewort geworden ist: »In der Eile sind Fehler«.

Es ist die Geschichte einer überraschenden Begegnung zweier Männer in der Wüste, ein Europäer wird von einem Mongolen in sein Zelt aufgenommen. Das wechselseitige Kennenlernen entwickelt Mühlenweg dann in einer Behutsamkeit und Weile, die mit raffinierten, ganz unauffälligen sprachlichen Verzögerungen operiert. Im Lesen erlebt man das Unwichtigwerden von Beschleunigung. Da Mühlenweg aber ein Erzähler ist, mit einer fast fürsorglichen Art der Analytik, fällt da ein Satz, der alles auf den Punkt bringen könnte: »In der Mongolei ist die Zeit ein Geschenk der Götter und nur dazu da, nach Herzenslust verschwendet zu werden.« Die eigentliche Wucht einer neuen Einsicht kommt aber im Originalton des Nomaden. Der Europäer erkennt im Gespräch mit dem alten Mongolen auf einmal, dass dieser nicht die geringste Ahnung von jener Katastrophe hat, die einen ganzen Kontinent über Jahre verstörte. Unfassbar, dass er von einem Weltkrieg auch 10 Jahre nach dessen Ende noch nichts weiß.
»Ich wusste es nicht, aber jetzt weiß ich es.« Sagt der Mongole. Und als der Europäer darauf insistiert, dass es Zeitungen gebe und er doch schon lange etwas davon hätte erfahren können, setzt der Mongole dagegen: »Wozu? Wozu hätte ich das eher erfahren sollen? Ich erfahre das doch jetzt.«
Man kann diesen Ernst kindlich naiv nennen und auffassen. Es ist erlaubt, zu lächeln. Der Mensch Fritz Mühlenweg war unter anderem ein Humorist und seine karnevalistische Lust färbt in seiner Erzählart noch Szenen, die bei Anderen in weisheitliches Pathos abkippen würden. Wir lesen diese Antwort und für Momente gelingt uns der Wiederanschluss an eine Weltsicht, die uns mit dem Ende der Kindheit abtrainiert worden ist. Eine Unmittelbarkeit, an die wir uns durch andere Stücke humorvoll-weisheitlicher Literatur aber gern erinnern lassen.


Mühlenwegs Mongolei hat sich längst von den Breitengraden der Gobi abgekoppelt und liegt dicht neben jener Wüste, in der ein Pilot namens Saint-Exupéry dem kleinen Prinzen begegnet, und nicht weit von dem Wäldchen, in dem Winnie the Pooh mit nicht nachlassendem Staunen kommentiert, wie er beim Honignaschen vom Baum fällt.
»Ich wusste es nicht, aber jetzt weiß ich es.« Wir lesen das heute, und für Momente wird wieder denkbar, dass es menschliches Leben ohne die Verseuchung durch psychoanalytisches Denken gibt. Das Recht auf Nichtwissen, das Recht auf Unwichtighalten ist in Mühlenwegs erfundener Mongolei aufbewahrt, man muss es nur abholen.
»Wozu hätte ich das eher erfahren sollen?« Wir lesen das heute, umgeben von wuseligen Autisten, die auf ihre Handys starren, die Menschen in ihrer Nähe übersehen, und sich abkassieren lassen für den Wahn, ständig erreichbar zu sein. Wir lesen das, angeblitzt von Eilmeldungen aus Online-Nachrichten, in beinahe Echtzeit vernetzt mit den Unglücken der Welt, mit den Verbrechen der Politik und mit Wichtigkeiten, die anderntags schon absinken in Sedimente unter dem Bildschirmrand. Die uns aber tiefgründig beunruhigen und verstören. Und für die Dauer einer Lektüre erfüllen wir uns bei diesem Mühlenweg den Wunsch vom Ende der Weltpolitik.
Darin können wir so lange angenehm erstaunt verharren, wie wir die Lebensbedingungen des Mongolen nicht weiter beachten. Der Erzähler skizziert sie wie nebenbei, ohne falsches Mitleid. »Er entfachte das heruntergebrannte Feuer zu neuer Glut, und jetzt sah ich, dass er alt und allein war. Es gab im ganzen Zelt nur ein zusammengerolltes Bündel mit Schlafdecken und Fellen; es lag hinter ihm.« Jenseits des Horizonts der Erzählung bleibt dieser Alte fernab in der eisigen Wüste wieder allein.
Die Entschiedenheit, mit der er Aufregungen über Vergangenes und Weitentferntes von sich weist, könnte auch als Altersweisheit gelesen werden, die sich erst in der Nähe zum Tod entwickelt. Dass Tod und Einsamkeit zum Leben gehören, ist ein untergründiger cantus firmus in Mühlenwegs erzählerischen Denken, auch wenn er vordergründig ja seine Figuren in der Zuversicht stärkt, dass Gefahren und Härten zu überwinden sind, wenn die Bedrängten nur mit listigem Mut handeln und zusammenhalten. Er wusste, dass dies schon Kindern als Einsicht zumutbar war. Er hatte den Erschöpfungstod in der Wüste erlebt, eine gewalttätige Natur, die über das einzelne Leben hinweggeht. Daraus hat er kein Entsetzen gefiltert, eine Auflehnung gegen das Sterben, wie sie sein Generationsgenosse Canetti kultivierte, wäre ihm lächerlich erschienen.


Zur Mühlenwegschen Ideologieresistenz gehört auch, dass er einen religiösen Trost nicht brauchte. Er hat sich von der Religion des Kreuzes, in deren Dunstkreis er aufgewachsen war, so weit entfernt gehalten wie vom Schamanenglauben oder den buddhistischen Versatzstücken der Mongolen. Wenn man das Geschwätz unseres rezenten Jahrtausendbeginns einmal kurz leiser dreht, das sich in der weltweiten Rückkehr der Religionen wieder einrichten möchte, dann hält Mühlenwegs Werk etwas bereit, das ins Projekt noch ganz künftiger Aufklärung passen kann: Das Gefahrvolle wird nicht kleingeredet oder wegtherapiert, – es gibt keine Hilfe –, aber es kann für eine kleine Zeit gemindert werden – keine Besorgnis deswegen. Rituale der Höflichkeit, noch wo sie spielerisch eingehalten werden, geben erste Sicherheit. Eine Ethik des wechselseitigen Respekts braucht keine Rückbindung an überirdische Transzendenz.
Ich will jetzt gar nicht darüber spekulieren, dass dieses ganze erzählerische Werk in einem einzigen Lebensjahrzehnt entstanden ist, seinem letzten. Ein Mann, der seinen ersten und dann auch wichtigsten Roman im Alter von 50 Jahren erst gerade begonnen hatte, der mit 58 nach einem Schlaganfall mit seiner Rechten nicht mehr schreiben konnte und der die Einsicht ertrug, dass er mit seinem letzten, nicht mehr gedruckten Roman gescheitert war. Ein Autor, der mit nicht ganz 63 Jahren starb.

Sehr wohl dürfen wir aber darüber spekulieren, von welcher Art die eigentümliche Lebensverzögerung des Schriftstellers war. Dieser doppelt begabte Mann hat ja sein Talent zu schreiben gleichzeitig mit der Malerei entwickelt. Er wollte seit den frühen 30er-Jahren veröffentlichen und ist mit Buchprojekten mehrfach abgewiesen worden. Aber ich bin gar nicht so sicher, ob das nicht zu seinem Vorteil geschah. Es gibt Verhinderungen, die im Nachhinein einen geheimen Sinn zeigen. Uns ist ein Schriftsteller Mühlenweg erspart geblieben, ein unglücklicher Solitär, der Anfang der Dreißigerjahre sich vom Männerdenken der Expedition und der Eroberungsmetaphorik seines Chefs Sven Hedin noch nicht ganz gelöst hatte. Und unter den Zensurbedingungen des nationalsozialistischen Deutschlands ein Volk, das damals zu den Untermenschen gezählt wurde in seiner nomadischen Kultur als vorbildlich zu schildern: undenkbar.
Es hat dann vor allem die Begegnung mit seiner Frau Elisabeth Kopriwa gebraucht und das Leben in einer rasch anwachsenden Kinderschar, jene Wüste Alltag, die in seinem Buch die kleine Nuni durchqueren muss. In diesem schriftstellerischen Moratorium bis in die Nachkriegszeit hat er innere Wegstrecken zurück legen müssen, die der Ökonomie seiner Phantasie aufhalfen.
Er hatte den 28-Jährigen noch in sich, der damals auf der ersten Reise nach Asien als einzige triviale Utopie in seine Briefe packte: „Hoffentlich können wir, wenn wir nach Peking kommen, gleich aufsitzen und losreiten". Ein Männerritt weg von Allem, nicht einmal auf einen Horizont zu. Es hat die Umwege, die Zweifel, die Angst und ein Lebensglück gebraucht bis er die Einsicht weitergeben konnte: »Wer nach Zentralasien geht (…) sollte das Land betreten wie am ersten Schöpfungstag, als ob er keine Erfahrungen habe, die Menschen nicht kenne, und nicht einmal die Natur. Das Umlernen im Denken erfordert nicht nur Anpassungsfähigkeit. Dazu ist die Bereitschaft des Herzens notwendig…«
Dann aber konnte ihm sein Erzählstil gelingen, der für 10-Jährige auf die eine Weise faszinierend ist und für 80-Jährige auf eine andere, ein Schriftsteller also mit der sehr seltenen Gabe, ein Gespräch zwischen den Generationen in Gang zu bringen. Unverwechselbar in der deutschen Literatur. Und es konnte ihm jene Erfindung glücken von der geheimen Mission durch die Wüste Gobi, die als planlose, zufällige Fahrt beginnt und zu einer Reise ins Unbekannte wird. Die Mission scheitert eigentlich, eine Botschaft kommt zu spät ans Ziel, es gibt die Unglücke, es gibt das Böse und den Abschied für immer. Aber die Reisenden gewinnen durch die unvordenklichen Begegnungen unterwegs, durch die Freundlichkeit, den Witz und die Zuversicht der Nomaden.

Meine Damen und Herren, dass wir uns heute Abend in dieser Oase hier begegnen können, ist das Verdienst der Projektgruppe um 44 Studentinnen und Studenten, in Schach gehalten von ihrer Professorin Judith Grieshaber und beraten von der Mongoleiexpertin Barbara Stelling.
Aller Beifall für sie und dann husch in den Turm.



Ekkehard Faude, Libelle Verlag. Rede im Konstanzer Kulturzentrum anlässlich der Ausstellungseröffnung »Fritz Mühlenweg und die Mongolei« am 10. März 2005.



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