September 2001
Ekkehard Faude, 23. September 2001, Luzern, Rede bei der Buchvorstellung von Peter Stobbes »Nach Delft gehen«
MDuH, Freundinnen und Nachbarn der Libelle,
herzlich willkommen, ich freue mich sehr, dass Sie so zahlreich unserer Einladung gefolgt sind und auch weite Fahrten unternommen haben, um nach Luzern zu kommen. Und ich danke der Buchhandlung Raeber hier, die uns diesen Ort überhaupt ermöglicht und die Veranstaltung so freundlich vorbereitet hat. Es stand, Sie erinnern sich, in der Einladung vom August ein Satz in Klammern, dort wo vom Bourbaki- Panorama die Rede ist. Der Satz hieß: »Es ist eine geschlagene Armee darauf abgebildet. Libelle würde Sie nicht unter Wandbilder von siegreichen Armeen einladen...« Dieser Satz gilt weiterhin. Literatur, wenn sie wirklich eine ist und nicht Wortlanger der Propaganda werden mag, ist auf Seiten der Geschlagenen, sie erkundet Auswege aus verhärteter Wahrnehmung, stärkt mit Worten unser Vermögen, den schrecklichen Vereinfachern der Macht zu widerstehen. Peter Stobbes Text kann da paradigmatisch gelesen werden.
Meine Damen und Herren: Eine Buchvorstellungen ist ein kleines Erntedankfest, am ersten Herbstsonntag also nicht unpassend. In einem quadratischen Objekt, schön anzufassen und aufzublättern und in Augenschein zu nehmen, hält der Autor die Frucht einer langen Arbeit. Alles hat einmal bei ihm damit begonnen, dass schwarze Zeichen auf weißem Papier etwas festhalten sollten: ein aufflackerndes inneres Bild vielleicht, das Aroma eines Wunsch, Taumelfelder eines Wortspiels, ein Tasten nach den geheimen Wasserzeichen einer Selbstklärung.
Es ist zu vermuten, dass alles sogar noch viel früher begann, lange vor den ersten Schriftzeichen auf dem Weg nach »Delft«. Peter Stobbe weiß das. Dieser Autor ist ein Experte im Ausloten von Vorgeschichten und ein Meister im innehaltenden Zuwarten. Seinen Text hat er mit dem Satz beginnen lassen: »Seit Tagen zögert er, das Bild zu malen.« Ein kraftvoller Satz. Mit acht kurzen Worten holt er uns in eine ruhelose Stille: es ist nicht die Stille vor dem Sturm, nicht unbedingt die Ruhe vor einem Reifungsprozess, es ist eher die Zeit vor dem Beginn eines Schneegestöbers, das die gewohnten Konturen neu arrangieren wird, nie zuvor gesehene Formen können auftauchen. Ein Knistern der Erwartung.
Die Buchvorstellung als Erntedankfest also. Für die Verlegerei ist da jeweils noch mehr zu feiern. Dass die Arbeit des Autors die bestmögliche ist, wissen wir ja schon einige Zeit. Aber dann kommt jeweils noch jene Klippe, die unsere ästhetischen Vorstellungen für dieses Objekt Buch gefährden kann. Irgendwann schicken wir die Daten ja in Richtung Druckerei ab, Inhalt und Form in einer unsichtbaren digitalen Feinordnung auf Datenträgern. Nach dieser Zeit des Loslassens in fremde Fertigungsverläufe, zu einer Firma in einer weit entfernten Stadt, bei der gleichzeitig hunderte anderer Produktionen laufen, kann dann noch allerhand passieren, was ein Erntedankfest trüben könnte. Ich hab schon erlebt, dass das Inhaltspapier unterschiedliche Färbung zeigte; dass eine unerwünschte harte Bindeart gewählt wurde; dass ein Lesebändchen fehlte, wo eins hätte sein sollen; dass die Farben des Umschlags versumpft waren. Das sieht man dann alles beim ersten Anblick und erschrickt für immer. Manchmal gewöhnt man sich auch an die ungewünschten Ergebnisse; sehr selten kommt es sogar vor, dass man nach einiger Zeit sagt: Wir wolltens zwar anders, aber so ist es eigentlich auch gut. Das sagen wir aber dann nur leise.
Bei diesem Buch war die auch Erstsehensfreude eine ungetrübte. Das betrifft vor allem die Farben dieses seltsamen Umschlagbilds. Es war ja die spannende Frage: Würden die schwebend fundamentalen roten Linien darin so leuchten, dass für Leser der Erzählung im Nachhinein die Erinnerung an eine der kraftvollsten Passagen gelingen kann? Es gibt da nämlich eine Szene, in der der Maler Vermeer einigen Kollegen in seiner Kneipe erklärt, wie er sein Bild »Die Spitzenklöpplerin« komponiert hat: »Und eigentlich, sagt Vermeer, drehte es sich bei dem Bild nur um ein paar rote Fäden, die sie zum Klöppeln brauchte. Sie lagen auf einem blauen Kissen mit den weißen Streifen.« Er sagt das übrigens zu Malern die Andy, Leo und Gerhard heißen. Und es ist dieser Gerhard, der vermutlich Richter mit Nachnamen heißt, der das Bild mit der gebeugt arbeitenden Frau und ihren roten Fäden genauer anschaut: »Natürlich, sagt Gerhard. Es sind die Fäden. Die Unruhe kommt es diesen Fäden. Als wären sie pulsierende Drähte, von einem Strom durchflossen, dass sie emporzüngeln und wie zuckend in die weichen Stoffe und Bordüren einbrechen, als wollten sie das stille Geviert der Nadeln für immer zerreißen. Wie eine unsichtbare Welle dringen ein Saugen und ein Ziehen in den Ruheraum des Bildes ein, als wären die Farben schon ins Fließen gekommen. ... Das Feste bricht auf und fließt ins Lose. ... Zwei drei lose Fäden, sagt Vermeer, und alles war nur ein kurzes Atemholen.«
»Das Feste bricht auf und fließt ins Lose.« Es wird auf die beiläufigste Weise apokalyptisch geredet in diesem Text. Und der Apokalypse wird auf die selbstverständlichste Weise die Luft rausgelassen: »zwei drei lose Fäden...« Magie und Aufklärung, hübsch nebeneinander. Natürlich werden Sie, wenn Sie diese Geschichte mit ihren Wortbildern gelesen haben, sich Zugang zu einem Vermeer-Katalog verschaffen, ich habe das auch getan. Was fabuliert uns dieser Autor? An diesen Stellen ist eine externe Realitätsprüfung erlaubt. Sie werden wenigstens drei der berühmten Bilder auf ganz neue Weise sehen, weil ihnen dieser Erzähler Aufschlüsse gibt mit seiner seltenen Gabe, Farben und Lichtbedeutungen in Worte umzugießen. Ein literarischer Text als Schule des Sehens.
Die roten pulsierenden Drähte also leuchten auch auf unserem Umschlag, so wie sie meine Frau auf ihrem Mac gesehen hat, nach Bildbearbeitung, Schriftauswahl und endlosen Varianten der Gestaltung. War da noch die Frage: Würden die Grüntöne so satt, ruhelos und schattig kommen, wie wir uns das wünschten? Sie kamen, sogar der Maler des Bilds ist zufrieden. Peter Stobbe hat es vor Jahren gemalt und das Bild »Mongolei« genannt. Einige unter Ihnen ahnen jetzt , dass uns dieser Bildtitel wie eine ermutigende Passung erscheinen musste: Der meist geliebte Erzähler unseres Programms, Fritz Mühlenweg, hat in seinen Romanen seine Erfahrungen in der Mongolei nacherfunden. Auf sein wichtigstes Buch, »In geheimer Mission durch die Wüste Gobi«, haben wir ein chinesisches Glückszeichen einprägen lassen. Etwas von diesem mongolisch inspirierten Glückszeichen wollten wir durch das Titelbild diesem neuen Buch mitgeben. Wir glauben ja fest daran, dass sich, sobald wir weghören, die Bücher unseres Programms noch ganz anders untereinander verständigen, als wir das ahnen können. Wispernde Stimmen, kleine ermunternde Zurufe der Erzählfiguren, die alle unterwegs sind, in eine erträumte Mongolei, in ein halluziniertes Delft und letztlich unterwegs in unsere so unterschiedlichen Lesarten. Die Magie der besseren Bücher bewirkt dann, dass uns die Einsichten dieser eigenwilligen, erfundenen Nomaden, dieser Suchenden und Herumtreiber, auf unseren eigenen, unvorhersehbaren Wegen jenen taumelnden Tanz stärken, der wie ein aufrechter Gang wirkt.
Damit sind wir auch schon mitten im zweiten Sinn einer Buchvorstellung. Nach Programmvorschau und diversen anderen Werbungen ist die Buchvorstellung der klassische Ort öffentlicher Rechtfertigung. Warum eigentlich hat uns dieser Text so gefallen und warum wollen wir, dass ihn möglichst viele lesen? Programmarbeit im Verlag hat etwas mit ggelückten Liebesgeschichten zu tun.
Die Bücher suchen sich ja auf je eigene Art ihren Weg zur Libelle. Wer vor drei Jahren in der Kartause Ittingen bei der Vorstellung von Käthe Vordtriedes Briefen aus dem Schweizer Exil mit dabei war, lernte einen Stoff kennen, der uns durch die Kennerschaft eines langjährigen Autors ins Haus kam, Manfred Bosch. Ein Verlag braucht verlässliche Experten.
Vor zwei Jahren war unser wichtigstes Buch der nun schon legendäre erste Berndorf-Krimi »Der Schatten des Schwans« von Ulrich Ritzel. Das kam als Manuskript eines Unbekannten in der normalen Morgenpost zu uns, ich hätte es aber vielleicht zu flüchtig angeschaut, wenn mir nicht eine alte Freundin, der ich 30 Jahre zuvor als Trauzeuge beigestanden hatte, diesen besonderen Stoff telefonisch angekündigt hätte. Ein Verlag braucht auch den guten Zufall und langjährige Freundschaften.
Wer von Ihnen letztes Jahr im Gottlieber Literaturhaus die Vernissage von Hermann Kinders »Himmelhohes Krähengeschrei« miterlebt hat, die Fete hat ja damals das Bodman-Haus an den Rand seiner statischen Belastbarkeit gebracht..., hörte den Text eines Autors, den ich seit Studienzeiten in Konstanz kannte und dessen allererstes Manuskript ich 1977 als junger Buchhändler, der noch überhaupt nicht an eine Verlagsgründung dachte, dem Cheflektor Haffmans im Diogenes Verlag gegeben hatte; ders dann auch prompt zu einem literarischen Erfolg gemacht hat
Ein Verlag braucht gute Zufälle, alte Freunde und den langen Atem, kann man daraus lernen.
Diesjahr nun, mit Peter Stobbe und Luzern, ist alles anders. Dieser Autor hat sich nicht um einen Verlag bemüht. Die erste Post ging da erst mal an ihn ab. Vor nun bald drei Jahren las ich im Stuttgarter Literaturblatt einen seltsamen Text. Der begann mit dem Satz: »Heute früh sah ich Ezra Pound, den Dichter, im Bus aufs neue die Pisaner Cantos dichten.« Ja Wahnsinn. Der Text hieß dann auch noch »Substitute«, das Wort ist Titel eines Songs von The Who. Da schrieb einer in einer ganz unangestrengten eigenen Sprache, sachlich genau aus genau aunserem Alltag, mit Worten, die immer wieder durchlässig wurden für poetische Bilder, eine Sprache: weit entfernt vom Szenenplauderton, den einige Feuilletons gerade hätschelten. Dazu ging es diesem Autor ganz offensichtlich um eine Traditionsbildung unserer Jahre, die klassische Moderne der Dichtung war da ebenso vorausgesetzt wie die Rock-Poetry, ein zeitgeschichtlich-politisches Raster pulsierte, ein entschiedener Erkenntniswille brachte sich spielerisch und kenntnisreich zur Sprache.
Ich erfragte bei der Chefredakteurin Irene Ferchl, mit der ich übrigens vor über 10 Jahren einmal eine bibliophile Verrücktität zusammen gemacht hatte, einen Band mit Gedichten über die Droste, die Adresse des Autors: ein Deutscher, der schon 10 Jahre bei Luzern lebte, Bilder machte, Malerei unterrichtete. Peter Stobbe bekam also einen handschriftlichen Brief mit meinen Komplimenten und der Frage, ob er denn noch andere Texte fertig habe. Das war Januar 1999.
Man sieht: Qualität ist erkennbar, jederzeit, lässt sich aber leider nur selten finden. Und: Ein Verlag braucht nicht nur Freundinnen, sondern auch eine funktionierende Literaturszene, grenzüberschreitend, sodass ein Maler aus Büdingen von Luzern aus über Stuttgart wenigstens bis zum Bodensee zu lesen ist und dort auf einen treffen kann, der schon mal an Ezra Pounds Grab auf der venezianischen Friedhofsinsel ein Eukalyptusblatt mitgehen ließ.
Der Autor Stobbe meinte am Telefon freundlich-überrascht, bis Ende Februar könne er mir eine Sammlung schicken. Daraus wurde dann zwar nichts. Im Juni schickte er dafür einen ganz anderen Text, als ich ihn erwartet hätte. Eine Überraschung. Diese Erzählung vom Landlooper handelte von Malerei und war in einer erfundenen Vormoderne angesiedelt. Ganz weit entfernt. Seltsam nah, auf eine andere Weise. Begegnet sind wir uns übrigens erst ein Jahr später. Es ist ja auch wahnsinnig weit vom Vierwaldstätter See zum Bodensee, wenn man mit Ezra Pound Bus fährt und einen Umweg über Vermeers Delft nimmt.
Der Text wuchs dann noch ein Jahr, schien im Sommer 2000 fertig zu sein, wurde in den Monaten danach wieder kondensiert. Das Textverfahren des Autors erleichtert ihm Veränderungen: eigentlich ist das ein flüssiges Mosaik aus geschlossenen Handlungssplittern, die in sich geschlossen sind, aber über harte und weichere Schnitte hinweg zusammenhängen. Gewichtsverschiebungen sind da viel leichter möglich als in strikt lineraren Erzählungen. Im März wussten wir dann beide, dass es gut geworden sein könnte und dass dies eigentlich dann auch Rezensenten merken müssten. Freundliche Unterstützung kam auch aus dem Kanton Luzern direkt, vom Amt für Kulturförderung. (An dieser Stelle muss ich zu einer genierten Regiebemerkung ausholen: dieser Dank ist im Buch leider vergessen worden; im Verlag werden, wie der Name schon sagt, ständig wichtige Sachen verlegt und immer ruht ein Merkblatt im entscheidenden Moment in einem falschen Ordner.. Das wird aber nachgeholt in der 2. Auflage.)
Von heute aus kann diese Buch nun seinen Weg machen. Es ist ein geheimnisvoll streng komponierten Text. Eigentlich sind das, in sanft vergrößerter Schrift und zwischen sehr komfortable Seitenränder sowie eine großzügige Titelei gestellt, nur 114 Seiten Text. Auf den ersten 30 Seiten kämpft der Maler Hieronymus mit seinen Dämonen und einem Bild, das lange nicht werden mag und das ihm dann doch gelingen will: Er malt sich selbst als Landlooper. Auf den nächsten 35 Seiten ist diese gemalte Figur aus dem Bild geflüchtet, und nimmt uns mit auf ihrem Weg nach Delft, wir geraten mit ihr in die Farbschichten der berühmten Stadtansicht, werden immer wieder aber zurück gezappt zum zornigen, verwirrten Hieronymus, der sein Bild nun neu malen muss, weil er sich selbst abhanden gekommen ist. Die letzten 40 Seiten lang sind wir mit dem Landlooper im »Mechelen«, der Kneipe Vermeers. Beim Wirt Vermeer treffen sich nach und nach einige Maler, sie heißen wohl El Greco, Andy Warhol, Gerhard Richter, sie verlangen die Besichtigung seines Ateliers und werden in die Geheimnisse der Lichtmaschinerie eingeweiht. Und der Landlooper sieht an den Wänden zwei von Vermeers großen Bilder, aus denen die gemalten Figuren zu sprechen beginnen.
Wir haben einen schmalen und überaus dichten Text vor uns. Es geht darin um nicht weniger als die Erschaffung einer Welt. Es geht um die schöne Ahnung, die Illusion, auch die sorgsam gezielte Lüge bei der Nachschaffung der Welt. Die sehnsüchtigen, verbissenen Versuche des alten Malers, unseres Bruders, Hieronymus: Das Licht draußen, das ohne den Menschen auskommt, ins Haus zu holen und ins eigene Bild zu bannen: das uralte prometheische Verlangen, neu erzählt. Er erfüllt uns für die stillstehende Zeit des Lesens den unstillbaren Wunsch, den wir der wirklichen Literatur insgeheim entgegen bringen: dass sie uns über die blanke Leere hinter den gemalten Fassaden mit Geschichten aus einer anders erzählten Zeit hinweg hilft Dass sie uns über die Figuren tröstet, die aus den Bildern unseres Lebens entlaufen sind, die eigenen Konterfeis und Entwürfe, die sich davon gemacht haben, die geliebten Fremden, die wir wieder verloren haben. Sie werden sehen: das Echo dieses Texts, in seinem trotzigen, spielerischen Humor und seiner ernsthaften Sehnsucht, bestärkt uns auch in der Utopie, die die schlichteste und unzerstörbar bleiben soll, die Welt als immer noch konstruierbare, ein Ort .